Zwei Forensiker der Polizei sichern Spuren am Bahnhof von Grafing. Foto: Getty

Ein 56-Jähriger stirbt nach einer Messerattacke in Grafing. Das Motiv des Täters ist noch völlig unklar. Einen islamistischen Hintergrund schließt die Polizei jedoch aus.

Grafing - Am späten Vormittag ist der Platz vor dem Bahnhof im oberbayerischen Grafing noch immer abgesperrt. Jede Menge Polizei ist da, am Boden sind dunkle Flecke zu sehen, es ist das Blut der Opfer. Ein Fahrrad liegt mitten auf dem Platz, ein anderes vor der Terrasse der griechischen Taverne „Orfeas“. Sie gehören zwei der Männer, auf die ein 27-Jähriger am frühen Morgen brutal mit einem Messer eingestochen hat. Insgesamt vier Opfer sind es – ein 56 Jahre alter Mann aus dem 30 Kilometer entfernten Wasserburg am Inn erlag in der Klinik seinen Verletzungen. Die anderen drei sind 43, 55 und 58 Jahre alt. Einer von ihnen schwebt in Lebensgefahr.

Am Morgen macht die Vermutung die Runde, es habe sich um eine islamistisch motivierte Messerattacke gehandelt. Der Täter soll Augenzeugen zufolge „Allahu Akbar“ gerufen haben – Allah ist groß – , sowie „Ihr Ungläubigen müsst sterben“. Trifft der Terror jetzt auch die bayerische Provinz? Die Grafinger Bürgermeisterin Angelika Obermayr steht vor der Polizeiabsperrung und sagt sichtlich schockiert: „Dieses Bild kennen wir so nicht im idyllischen Münchner Umland.“ Die 13 000-Einwohner-Stadt liegt 35 Kilometer östlich der Landeshauptstadt im Landkreis Ebersberg. Der CSU-Landrat Robert Niedergesäß ist auch da, er steht neben der grünen Bürgermeisterin und hat einen Strauß weißer Rosen in der Hand, den er später auf eine Stufe vor dem Bahngleis legen wird.

Bis zum Mittag ergeben die Polizeiermittlungen, dass die Bluttat keinen islamistisch-terroristischen Hintergrund hat. Nach Angaben der Polizeivizepräsidentin Petra Sandles gibt es keine Hinweise, dass er Teil eines islamistischen Netzwerkes ist. Auch deute nichts darauf hin, dass er durch Lektüre islamistisch-salafistischer Schriften radikalisiert worden wäre. Er sei vermutlich ein Einzeltäter.

Der Mann, der Paul H. heißen soll, kommt aus dem hessischen Gießen und hat keinen Migrationshintergrund. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte nach einer Kabinettssitzung in München, der seit zwei Jahren arbeitslose gelernte Schreiner habe offenbar psychische Probleme und Probleme mit Drogen.

Im Laufe der Vernehmung gestand er die Tat, konnte aber sonst wenig Zusammenhängendes sagen. Laut Polizei war der 27-Jährige noch am Wochenende in psychiatrischer Behandlung gewesen. Über die unmittelbare Zeit vor der Tat haben die Ermittler einiges herausbekommen: So fuhr der Mann am späten Vorabend mit dem Zug über Fulda nach München. Da er nicht genügend Geld für ein Hotel hatte, verbrachte er einen Teil der Nacht am Hauptbahnhof und machte dort Zufallsbekanntschaft mit einem Ungarn. Schon um 1.40 Uhr wurde er von der Überwachungskamera am Bahnhof Grafing gesehen. Warum es ihn ausgerechnet dahin gezogen hat, ist noch unklar. Womöglich war der Bahnhof der Gemeinde ein rein zufällig gewählter Ort.

Die Bürgermeisterin Obermayr sagt es ganz offen: „Ich bin erleichtert, dass es ein deutscher Täter war. Und dass er nicht aus Grafing kommt.“ Der Landrat nickt dazu. Schon am Morgen war in Internet-Netzwerken ein Zusammenhang zwischen der Messerattacke und Flüchtlingen gezogen worden. Leute hatten gepostet: „Das haben wir davon, dass wir die Asylbewerber haben.“ 120 Flüchtlinge sind in Grafing untergebracht, dezentral in Wohnungen. Probleme? „Keine“, sagt Angelika Obermayr. Weil aber ein Islamismus-Verdacht bestand, übernahm das Landeskriminalamt die Ermittlungen.

„Das ist der Täterzug“, meint Obermayr und zeigt auf die S-Bahn auf dem abgesperrten Gleis 1. „Es ist viel Blut drin“, sagt ein Polizist. Um 5.01 Uhr sollte die S 4 Richtung München starten. Die Station Grafing-Bahnhof wird von vielen Pendlern benutzt, am frühen Morgen herrscht dort reger Betrieb. Laut Polizei attackierte der Täter ein erstes Opfer im Zug, das zweite auf dem Vorplatz und die anderen beiden ein paar Meter entfernt auf ihren Fahrrädern. Dem Triebfahrzeugführer der S-Bahn und einem Sicherheitsmann gelang es, den Angreifer unmittelbar nach der Tat zu vertreiben. Der Mitarbeiter habe die Polizei auch zu dessen Versteck geführt. Dort, in der Nähe des Bahnhofs ließ sich der Täter, der barfuß unterwegs war, mit der Tatwaffe – einem zehn Zentimeter langen Messer – widerstandslos festnehmen. Möglicherweise existiert von dem Amoklauf eine Videoaufzeichnung. Die Deutsche Bahn hat Videomaterial aus dem S-Bahn-Zug und vom Bahnhof übergeben.

Um sieben Uhr am Morgen ist die Bürgermeisterin von ihrer Sekretärin angerufen worden. Dann fuhr sie gleich zum Bahnhof, nun läutet ihr Handy ununterbrochen. Die Stadtratssitzung am Abend will sie absagen, es wäre um Sozialarbeit für die Grundschule und um Sportförderung gegangen. „Das hat keinen Sinn an einem solchen Tag“, sagt sie. Stattdessen organisiert sie eine Gedenkfeier für die Opfer – an diesem Mittwoch um 18 Uhr in der katholischen Kirche.

Einem Grafinger Bürger kam der Tag schon am Morgen komisch vor. „Wir haben keine Zeitung bekommen“, berichtet er. Später erfährt er den Grund: „Der hat unseren Zeitungsausträger am Bahnhof niedergestochen, der ist jetzt in der Klinik.“