Neue Krebstherapien versprechen bessere Heilungschancen. Im Bild: ein Patient bei der Blutabnahme. Foto: dpa

Kann der Körper Krebs bekämpfen als wäre es ein Schnupfen? Derzeit werden immer mehr Therapien zugelassen, die das körpereigene Immunsystem gegen Krebszellen wappnen. Experten klären, wo die Nachteile liegen.

Stuttgart - Es gibt sie, die Geschichten von Krebspatienten, deren Immunsystem so gestärkt wurde, dass ihr Körper den Krebs selbst vernichten konnte. Da wäre beispielsweise dieses zwölfjährige Mädchen, Emily Whitehead aus den USA. Sie war im Alter von sieben Jahren an einer bestimmten Form von Blutkrebs erkrankt – der Akuten Lymphatischen Leukämie. Nach einer ersten scheinbar erfolgreichen Behandlung kam der Krebs zurück – dieses Mal nur sehr schwer heilbar. Doch die Ärzte haben bei ihr das körpereigene Abwehrsystem mobilisiert und es in die Lage versetzt, den Krebs selbst zu bekämpfen. Jetzt ist Emily krebsfrei. Ähnliche Geschichten gibt es von Patienten, die an Schwarzem Hautkrebs erkrankt sind.

Doch lässt sich Krebs tatsächlich so einfach bekämpfen wie ein schlimmer Schnupfen? Reicht es künftig, nur noch die Abwehrkräfte zu stärken, statt sich einer Chemo- oder Strahlentherapie zu unterziehen? Zumindest der Krebsexperte Gerald Illerhaus dämpft ein wenig die Euphorie über den scheinbaren Megatrend in der Onkologie: „Ganz so einfach, wie es oft dargestellt wird, ist es leider nicht“, sagt der Leiter des Stuttgart Cancer Center – Tumorzentrum Eva Mayr-Stihl, das dem Klinikum Stuttgart angegliedert ist. Zwar könne eine entfesselte körpereigene Abwehr durchaus für die Krebsmedizin genutzt werden. „Aber das wirkt nicht bei jedem – und kann auch nicht gegen jeden Krebs eingesetzt werden.“

Tatsächlich ist die Immuntherapie gegen Krebs kein völlig neues Konzept. Schließlich funktioniert sie tagtäglich in jedem einzelnen Menschen – ohne dass wir es bemerken: Ständig entstehen neue Zellen – und dabei passieren auch Fehler. Zellen entarten, geraten außer Kontrolle. Normalerweise kann die Immunabwehr des Körpers diese Krebszellen von gesunden Zellen unterscheiden. Es geht dann zum Angriff über. „Problematisch ist nur, dass das System oft zu ineffizient wirkt und diese Zellen nicht entschieden genug attackiert“, sagt Illerhaus. Auch können sich manche Tumorzellen gut verstecken. Sie besitzen beispielsweise die gleichen Oberflächenmerkmale wie gesunde Zellen auch. Oder eben gar keine. So werden sie vom Immunsystem nicht erkannt. Hinzu kommen die Abwehrmechanismen der Krebszelle: Sie ist in der Lage, angreifende Immunzellen zu blockieren.

Eine Armee spezialisierter Immunzellen

Inzwischen gibt es durchaus Medikamente, die diesem Effekt entgegenwirken. Bei Patienten mit malignen Melanom, dem schwarzen Hautkrebs beispielsweise, werden Proteine gespritzt, die bestimmten menschlichen Antikörpern ähneln. Sie sorgen dafür, dass sich Krebszellen erst gar nicht tarnen können und das Immunsystem wieder in Aktion treten kann. Schon jetzt, so betont Stephan Grabbe, Leiter des Deutschen Hautkrebskongresses, der derzeit in Mainz stattfindet, sei die Immuntherapie beim schwarzen Hautkrebs von den Effekten und der Verträglichkeit her der Chemotherapie weit überlegen. Die günstige Situation, dass eine Armee spezialisierter Immunzellen nur losgelassen werden muss, wird gerade bei anderen Hautkrebsarten untersucht. Auch bei Lungenkrebs ist die Forschung vielversprechend.

Doch gerade die Patientengeschichte von Emily zeigt: die Ära des neuen Wirkprinzips hat erst begonnen. Inzwischen können T-Zellen einem Patienten entnommen und mit Hilfe von Gentechnik auf die Zerstörung von Krebszellen programmiert werden, weshalb Mediziner auch von Gentherapie sprechen. Bei Emily war dieser künstlich herbeigeführte Großangriff erfolgreich. Inzwischen wurde die Therapie in den USA zugelassen.

Wann in Europa diese Form der Immuntherapie gegen bestimmte Varianten von Blutkrebs auf den Markt kommen wird, ist unklar. Im Deutschen Ärzteblatt gibt man zu bedenken, dass bei mehr als die Hälfte der Patienten die Leukämie zurückgekehrt sei, oder die Therapie erst gar nicht angeschlagen habe. Und auch der Stuttgarter Experte Gerald Illerhaus ist skeptisch. Trotz der wirklich eindrucksvollen Ergebnisse müssten die teils lebensbedrohlichen Nebenwirkungen ernst genommen werden, so Illerhaus. Schließlich gab es in Studien teilweise auch Todesfälle.

Unklare Langzeitwirkungen

Denn die gentechnisch veränderten Zellen sind hochaggressiv. Teils greifen sie gesundes Gewebe an, es kommt zu Entzündungsreaktionen und hohem Fieber. Unklar sei auch, welche Langzeitwirkungen zu erwarten sind, gibt man am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg zu bedenken. Man müsse in Langzeitstudien untersuchen, ob es aufgrund der genetischen Veränderung der Zellen Spätfolgen geben wird oder ob sich eventuell eine Zweiterkrankung entwickeln könnte, wird etwa Dirk Jäger zitiert, der die Abteilung Medizinische Onkologie im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg leitet.

Hinzu kommt der Aufwand: Bislang kann die gentechnische Bearbeitung der Antikörper nur in einem Labor im Westen der USA vorgenommen werden. Das kostet Zeit und sehr viel Geld. Umgerechnet 475 000 Euro werden pro Patient veranschlagt. Ob und wie das Gesundheitssystem diese Kosten stemmen will, ist unklar. In den USA müssen Patienten selbst für die Kosten aufkommen. Allerdings nur – so verspricht es das Schweizer Pharmaunternehmen Novartis, das diese Therapie entwickelt hat –, wenn die Behandlung innerhalb eines Monats angeschlagen hat. Zeigt sie keine Wirkung, muss auch nichts bezahlt werden. Man muss schon realistisch bleiben, sagt Illerhaus. „Die Therapie ist nicht ohne Grund für Patienten gedacht, die sonst als austherapiert gelten.“ Ansonsten bleibe die Chemo- oder Strahlentherapie erste Wahl: „Gerade bei Blutkrebs konnten die Standardtherapien so verbessert werden, dass die Heilungschancen zum Teil auf 90 Prozent gestiegen sind.“