Max Bense: 6. 12. 76, 18.15–19.20 h Foto: Jonnie Döbele

Als „Einmannstück in erkenntnistheoretischen Gewitterzonen“ erinnert der Stuttgarter Autor Harry Walter an die Vorlesungen des Philosophen Max Bense an der Universität Stuttgart. Und tatsächlich machen Fotos von Jonnie Döbele die Spannung spürbar.

Stuttgart - Wer sich in die unterirdischen Hörsäle der Universitätstürme in der Stadtmitte wagt, findet dort meist gähnende Studenten und monoton vorm Skript predigende Professoren. Doch es gab eine Zeit, da zog ein gewisser Philosophiedozent namens Max Bense gleich einem intellektuellen Popstar die Massen an. Die Tafel wurde zur Bühne, der temperamentvolle Redner zum umhertigernden Alleinunterhalter. Nicht nur Studenten besuchten die montäglichen „Bense-Shows“ respektive die „Bense-Days“, von denen die Kenner schwärmten.

Die Stuttgarter Tendenz, Stadtpersönlichkeiten zu vergessen, lässt sich auch im Falle des einst berühmt wie berüchtigten Bense erkennen, der auf dem Dornhaldenfriedhof ruht. Der Kinematograf Jonnie Döbele ruft den 1990 Verstorbenen mit einem Fotobuch zurück ins Gedächtnis: „Max Bense 6. 12. 76, 18.15–19.20 h“ heißt es und zeigt seltene Aufnahmen vom Hörsaalsitz. Warum selten? Bense neigte dazu, Hörer aus dem Saal zu werfen, wenn irgendwo ein Blitzlicht aufflackerte. Doch Döbele, damals Philosophiestudent, fragte einfach. „Überraschenderweise sagte er Ja – allerdings mit vielen Einschränkungen.“

Der Weg nach Stuttgart

Bense, 1910 in Straßburg geboren, erlebte die abscheulichsten Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Er studierte Physik, Mathematik, Philosophie, Geologie und Mineralogie. 1937 promovierte er in Bonn, verzichtete aber aufgrund politischer Meinungsverschiedenheiten auf seine (1946 nachgeholte) Habilitation – er hätte sechs Monate lang eine NS-„Ordensburg“ besuchen müssen. Eine akademische Laufbahn mit reinem Gewissen war damals unmöglich. Der impulsive Querdenker überlebte den Nationalsozialismus, indem er als Physiker und Mathematiker arbeitete.

Seit 1949 lehrte er an der Universität Stuttgart, damals noch Technische Hochschule Stuttgart genannt. Döbeles Aufnahmen von 1976 zeigen eine zunehmend bekritzelte Tafel. „F. Nietzsche“ lässt sich entziffern, „Platon“ und „Vico“ stehen zwischen Pfeilen und Umkreistem und Unterstrichenem. Davor ein Mann im Rollkragenpullover, der mit ausgestrecktem Arm auf das Geschriebene verweist und die andere Hand in der Hosentasche vergräbt. Großäugig gestikuliert er, sitzt mal auf dem Pult, wandert dann wieder von einer Seite auf die andere. Im ebenfalls im Buch enthaltenen Essay „Max Bense als Zeichner seiner Zeichen“ bezeichnet der Stuttgarter Autor Harry Walter die „Bense-Show“ als ein „durch Selbstinduktion gestartetes und sich rasch in erkenntnistheoretische Gewitterzonen hochschraubendes Einmannstück“.

Werk

Generell pochte Bense auf das Rationale in der Kunst, verband Mathematik und Ästhetik. Seine theoretischen Schriften fußen auf den Gedanken Descartes‘ und Leibniz‘. So gründete er den auf kartesischer Methodik stützenden Existenziellen Rationalismus. Dieser zielt darauf ab, „der Destruktion des Geistes durch den Zweifel und andererseits der Destruktion der Existenz durch den Beweis methodisch zu entgehen“. Denn: „Der Zweifel demonstriert die Existenz, der Beweis die Rationalität im Medium des Geistes.“ Den Worten des französischen Philosophen „Ich denke, also bin ich“ („Cogito ergo sum“) ließ Bense ein „Ich dichte, also denke ich“ folgen.

Benses poetischen Werken ist die Auseinandersetzung mit Ernst Jünger und Gottfried Benn anzumerken. Seinen Text „Das Ich, das Auto und die Technik“ über Haben und Sein eröffnet er, wie folgt: „Ein Ich hat man nicht, man ist es. Aber man hat ein Auto und ist es nicht, und so hat das Auto ein Ich, aber ist kein Ich und hat ein Ich ein Auto, ist jedoch kein Auto.“

Als Kopf der Stuttgarter Schule befürwortete Bense experimentelle Literatur und Kunst. Ästhetische und semantische Information trennte er strikt, er gilt als erster Theoretiker der von Eugen Gomringer 1953 ins Leben gerufenen Konkreten Poesie. Früh stellte er auch technikethische Fragen an die noch junge Informationstechnologie.

Kontroversen

Seine progressiven Gedanken brachten Bense freilich nicht nur Bewunderung. Der Rationalist und Atheist hielt es für die Aufgabe des Intellektuellen, unabhängig von Parteien Widerstand gegen diktatorische und irrationale Konstrukte zu leisten. Als solches verstand er nicht nur den Nationalsozialismus, sondern auch die Kirche. Nach dem Attentat im Jahre 1970 auf Papst Paul VI. sagte Bense im Interview mit unserer Zeitung, es könne seine Bewunderung hervorrufen, wenn andere töten. Das brachte ihm mächtig Ärger samt Ermittlungsverfahren ein.

Das konservativ regierte Stuttgart schien Bense zwar zu tolerieren, nicht jedoch zu schätzen. „Keine Lobrede auf Stuttgart“, schrieb er 1966, „Das wäre unangebracht. Denn von Modernität kann in dieser Stadt keine Rede sein. Es gab immer nur isolierte Punkte des Fortschritts.“ Die CDU-Politiker provozierte er gar so sehr, dass diese der Technischen Hochschule Stuttgart eine zweite Philosophie-Professur bewilligten, sofern sie mit einem Philosophen christlicher Prägung besetzt würde.

Was bedeutet es für Stuttgart, dass man den vermeintlichen Querulanten dennoch nicht verstieß und er sich wiederum nicht vertreiben ließ? Man könnte der Stadt ein tendenziös liberales Bürgerturm attestieren.

Jonnie Döbele: Max Bense 6. 12. 76, 18.15–1920 h. Aufnahmen vom Hörsaalsitz. Mit einem Essay von Harry Walter. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln. 45 Schwarz-Weiß-Fotos. 68 Seiten. 29,80 Euro.

Das Buch ist im Buchhandel erhältlich oder über www.jonniedoebele.de. Wer direkt beim Autor bestellt, erhält das Buch auf Wunsch mit persönlicher Widmung. (StN)