Bundespräsident Joachim Gauck hat das Massaker an den Armeniern im Jahr 1915 als Völkermord bezeichnet. Foto: dpa-Zentralbild

Diplomaten in Berlin wolten die Massaker an den Armeniern lange nicht als Genozid bezeichnen. Zu groß war die Sorge vor neuem Krach mit der Türkei. Zum 100. Jahrestag nennt der Bundespräsident die Dinge nun beim Namen.

Berlin - Joachim Gauck findet jene klaren Worte, die von ihm erwartet werden - und geht sogar noch einen Schritt weiter. Nicht nur verpackt als Beispiel für die Geschichte von Säuberungen und Vertreibungen nennt der Bundespräsident die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich einen Völkermord.

Als es um die deutsche Mitverantwortung für die Taten vor 100 Jahren geht, wird Gauck am Donnerstagabend beim ökumenischen Gottesdienst zur „Erinnerung an den Völkermord an Armeniern, Aramäern und Pontos-Griechen“ unüberhörbar deutlich: Auch die Deutschen müssten sich „noch einmal der Aufarbeitung stellen, wenn es nämlich um eine Mitverantwortung, unter Umständen gar eine Mitschuld, am Völkermord an den Armeniern geht“.

Da ist die Einordnung, direkt, ohne Umschweife: Es gab einen Völkermord an den Armeniern, macht der Bundespräsident im Berliner Dom klar. Nicht zufällig dürfte Gauck seine Worte in einen Zusammenhang mit der deutschen Verantwortung für die historischen Vorgänge gesetzt haben. So klingt die Feststellung nicht ganz so anklagend, mag er hoffen.

Trotzdem: Das Wort vom Völkermord ist jene Charakterisierung, die deutsche Diplomaten vermeiden wollten, weil sie weitere Verwicklungen mit dem Nato-Partner und EU-Aspiranten Türkei fürchten. Und neuen Ärger mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Ein paar Absätze vorher verwendet der Bundespräsident noch nahezu wortgleich jene Passage, die im Gedenktext der Koalitionsfraktionen von CDU, CSU und SPD steht, über den der Bundestag an diesem Freitag debattieren will. „Das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist“, sagt er da. Grünen-Chef Cem Özdemir hatte kritisiert, Union und SPD hätten mit dieser Formulierung ihre Haltung in einem Nebensatz versteckt.

Zu große diplomatische Zurückhaltung ist Gaucks Sache sowieso nicht, wenn es um die türkische Politik geht. Vor fast genau einem Jahr war das klar geworden, als er der Regierung in Ankara bei einem Türkeibesuch Demokratiedefizite bescheinigte und vor Einschränkungen für Justiz und bei der Meinungsfreiheit warnte. Erdogan warf Gauck im Gegenzug „Einmischung in innere Angelegenheiten“ vor und ätzte, der frühere Geistliche Gauck denke wohl „immer noch, er wäre ein Pastor“.

Offen ist, wie Erdogan auf den Klartext aus Berlin reagiert

Nun also die Verfolgung der Armenier vor 100 Jahren. Im Auftrag der damaligen türkischen Regierung hatte am 24. April 1915 deren Vertreibung und Vernichtung begonnen - bis zu 1,5 Millionen Menschen starben. Bis heute lehnt die türkische Regierung es strikt ab, dies als Völkermord zu bezeichnen.

Schon länger gab es in Berlin eine Art diplomatisches Tauziehen um den Begriff. Auch bei den Regierungsfraktionen sollte das V-Wort zunächst nicht vorkommen. Doch spätestens als Papst Franziskus die Massaker des Jahres 1915 den „ersten Völkermord im 20. Jahrhundert“ nannte, wurden in der Koalition Stimmen lauter, die sich gegen derart viel Zurückhaltung gegenüber Ankara verwahrten.

Längst war da schon klar, dass sich Gauck bei seiner Einordnung der Vorgänge im Osmanischen Reich nicht um das V-Wort herumdrücken würde. Doch er wollte wohl vermeiden, dass seine Sätze eine tiefe Kluft zur Regierung und zu den Regierungsfraktionen deutlich werden lassen. Es gab Beratungen mit Gauck - schon am Montag hatte das Auswärtige Amt davon gesprochen, dass der Bundespräsident „Impulse“ in der Debatte über einen Kompromiss gegeben habe.

Offen ist, wie Erdogan auf den Klartext aus Berlin reagiert. Kanzlerin Angela Merkel hat zwar schon bei einem Telefonat versucht, mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu die Wogen zu glätten. Doch einen Vorgeschmack auf eine mögliche Reaktion lieferte Ankara nach einer ähnlichen Erklärung des österreichischen Parlaments.

Fraktionsübergreifend hatten die Abgeordneten in Wien den Umgang der Türkei mit den Armenieren Völkermord genannt. Prompt beorderte die türkische Regierung ihren Botschafter zurück.