Live spielt Marcus Miller eine Mischung aus Jazz, Funk und Fusion – am 7. Juli im Amphitheater am Mercedes- Museum Foto: Festival Foto:  

Man tut Marcus Miller Unrecht, wenn man ihn auf „Tutu“ reduziert, das Album, das den letzten Frühling im langen Schaffen des großen Jazz-Trompeters Miles Davis markiert – kaum jemand groovt, slappt und pumpt am Bass derart virtuos. Kommenden Dienstag spielt er beim Festival Jazz Open.

Stuttgart  - Mr. Miller, Ihr aktuelles Album heißt „Afrodeezia“ – was ist der Hintergrund?
Ich folge meinen Vorfahren aus Westafrika über den Atlantik in die Karibik und die USA. Und greife dabei alle Einflüsse auf, die in der afroamerikanischen Musik stecken. Ich unterstützte damit das „Slave Route Project“ der Unesco, an Stationen des Weges waren lokale Musiker beteiligt.
Wie genau wissen Sie denn, woher Ihre Vorfahren stammen?
Ich habe einen DNA-Test gemacht. Das Ergebnis: Meine genetischen Wurzeln stammen aus Nigeria, Kamerun, der Elfenbeinküste, Spanien und Großbritannien. Das ist nicht überraschend für einen Afroamerikaner, aber ein realer Nachweis aus dem eigenen Blut ist schon sehr cool. Ich fühle mich nun wirklich mit meinen Vorfahren verbunden. Vorher wusste ich nur von North Carolina und auf der Seite meines Vaters von Trinidad. Nun kann ich sagen: Westafrika! Das ist eine neue Ära für Afroamerikaner, das so genau lokalisieren zu können. Ich war schon in Nigeria und im Senegal. Ich freue mich auf Kamerun, wo das Bass-Spiel Dank Richard Bona sehr populär ist.
Wann wussten Sie, dass Sie Musiker werden wollen?
Auf der Seite meines Vaters waren alle Musiker. Wynton Kelly, ein Cousin zweiten Grades, hat in den späten 1950ern mit Miles Davis gespielt. Als ich fünf war, habe ich meinen Vater am Klavier imitiert. Ich habe seine Brille aufgesetzt und ein Schachbrett in den Notenständer gestellt statt Noten. Die Felder waren zwar rot und weiß, aber das war mir nahe genug dran an Klaviertasten.
Wie kamen Sie zum Bass?
Mit zehn habe ich angefangen, Klarinette zu spielen, aber dann hörte ich die Jackson Five, und das war unglaublich: Schwarze Kids in meinem Alter, so talentiert und so professionell. Im Soul gibt es eigentlich keine Klarinette, und ich wollte ein Instrument spielen, das im Mittelpunkt steht. Damals war das der Bass, er hat den Takt vorgegeben, oft stand eine Basslinie im Zentrum der Songs. Als ich zwölf war, hat ein Freund von mir einen bekommen. Ich hing ständig bei ihm herum und habe mehr darauf gespielt als er selbst. Dann habe ich meine Mutter angefleht, mir einen zu kaufen.
Wollten Sie von Anfang an elektrisch spielen?
Ja, es war die Zeit von Soul und Fusion, Stanley Clarke, Jaco Pastorius und Bootsy Collins haben den Sound geprägt. Das war ein goldenes Zeitalter für den E-Bass. Jaco war sehr wichtig, er hatte einen sehr eigenständigen Sound, man wusst schon nach zwei Noten, dass er es ist. Und er war er ein großer Komponist. Das wollte ich auch: Einen identifizierbaren eigenen Klang entwickeln und gute Stücke schreiben. Gute Musiker sollten meiner Ansicht nach auch in der Lage sein, zu komponieren.
Sie haben viel im Studio gearbeitet, Basslinien für Roberta Flack und Billy Idol eingespielt. Woran erinnern Sie sich am liebsten?
Es hat sehr großen Spaß gemacht, mit Luther Vandross zu arbeiten. Er war so talentiert und gewitzt. Natürlich bin ich Miles Davis unendlich dankbar, dass er mir diese Chance gegeben hat, und auch David Sanborn.
Wie war das mit Ihnen und Miles Davis?
Ich hatte zwei Phasen mit ihm. Mit 21 kam ich in seine Band, nachdem er eine lange Pause gemacht hatte. Er hatte schon Gil Evans am Saxofon und die Plattenfirma hat mich empfohlen. Miles hat mich angerufen und mich gefragt. Kannst Du ins Studio kommen? Das war ein echter New Yorker Moment. Ich bin ins Columbia Studio gefahren und war ein paar Jahre lang Mitglied der Band. Dann habe ich ihn verlassen, um mich als Komponist und Produzent weiterzuentwickeln. Es war nicht einfach, ihm das zu sagen, aber er hat mir seinen Segen gegeben. Später ist sind Leute von Warner an mich herangetreten, die ich kannte: Miles möchte etwas Neues probieren, wenn Du etwas in petto hast, schick es uns! Ich habe „Tutu“ geschrieben und damit hat unsere zweite Episode angefangen. Diesmal war ich nicht nur sein Bassist, sondern auch sein Komponist und Produzent.
Hatten Sie kalte Füße?
Das ist das Gute daran, Mitte 20 zu sein: Eigentlich hätte ich eingeschüchtert sein müssen, aber ich habe einfach wie wild gejammt, um das hinzubekommen. Später wurde mir dann bewusst: Miles hatte mir ein Geschenk gemacht. Ich spreche gern mit Mino Cinelu darüber, einem Perkussionisten von Martinique, der in den 1980ern mit Miles gespielt hat: Weißt Du noch, wie er dies und jenes gesagt hat? Heute weiß ich, was er damals gemeint hat, heute habe ich die größere Perspektive.
Wie haben Sie Miles als Musiker erlebt?
Man kann nicht einfach fünf Jahre lang aufhören, Trompete zu spielen. Fürs offene Horn braucht man eine starke Mundmuskulatur, wenn die Melodien klar bleiben sollen. Miles’ Ton war schwach, er hat oft mit Dämpfer gespielt, um das auszubalancieren. Dann wurde er nach und nach immer stärker. Auf „Amandla“, unserem dritten gemeinsamen Album war er wieder richtig gut in Form.
„Tutu“ ist ein Kind seiner Zeit, geprägt vom synthetischen Sound der 1980er. Haben sie damals erwogen, klassischer zu produzieren?
Ich schon, aber Miles hat mich gelehrt: Die beste Art zu verhindern, dass ein Album ein Klassiker wird, ist zu versuchen, einen Klassiker zu machen. „Kind of Blue“ klingt nach den späten 1950ern, Miles hat nie versucht, zeitlos zu klingen. Musik muss ihre Zeit spiegeln. In den 1980ern haben wir Musik auf zwei Ebenen gehört, zum einen die Produktion mit Drum-Computer und Hallräumen, darüber hinaus aber auch die Substanz des Songs. Ich habe mir viel Zeit genommen, den Songs Tiefe zu geben. Das ist wie mit der Kleidung meiner Eltern, als sie jung waren – alles, an was ich mich erinnern kann, ist, dass meine Mutter schön war. Man muss über die Oberfläche hinausschauen.
Spielen Sie „Tutu“ live?
Ich stehe zu meiner ganzen Geschichte. 2010 habe ich die Tour „Tutu Revisited“ gespielt mit Christian Scott an der Trompete. Wir haben die synthetischen Sounds weggelassen und einfach die Songs gespielt, und er hat gesagt: Ich wusste gar nicht, dass die so gut sind. Das war ein großes Lob für mich.
Haben Sie mit Miles Davis jemals dessen alte Sachen gespielt?
Nie. Er war sehr mit der Gegenwart verbunden, er konnte keine Musik aus der Vergangenheit spielen. Ich habe zu ihm gesagt: Junge Menschen widmen ihr ganzes Leben Deinen Klassikern! Aber er hat geantwortet: Alles, woran ich denken kann, wenn ich sie höre, sind Schlaghosen. Ich sage den Leuten immer: Er war mutig. Und sie antworten: Wieso, er hat doch nur Trompete gespielt? Aber er war der größte Jazz-Star der Welt in den 1950ern, hat die Richtung gewechselt und wurde in den 1960ern wieder ein Star. Dann hat er sich wieder verändert. Man muss sehr viel Mut haben, um das zu tun. Oder verrückt sein. Oder vielleicht ein bisschen von beidem.