Gast im Literaturhaus: Rüdiger Safranski Foto: dpa

Am 12. Juli 1955 sendete der SDR erstmals einen Radio-Essay. Im Literaturhaus feierte SWR2 mit einem Symposium den 60. Geburtstag seiner Essays.

Am 12. Juli 1955 sendete der SDR erstmals einen Radio-Essay. An diesem Donnerstag feierte SWR2 mit einem Symposium den 60. Geburtstag seiner Essays.

Party mit Prominenz

Dass sich an einem sonnigen Arbeitstag reichlich Publikum im Literaturhaus einfindet, überrascht nicht nur Stefanie Stegmann, die Leiterin des Hauses. Am Vormittag sprechen SWR-Intendant Peter Boudgoust, Rundfunkredakteur Stephan Krass, der Literaturwissenschaftler Christian Schärf und die Autorin Sibylle Lewitscharoff. „Ein Radiohörer mit runden Ohren, der Arno Schmidt und Wolfgang Koeppen hört“: So hat sie ihren Live-Radio-Essay genannt. Kurz nach Mittag diskutieren dann Andreas Rötzer und Tom Lamberty als Vertreter der Verlage Matthes & Seitz und Merve über die Frage, welche Art von Essays das Land brauche, Dann sprechen Wolfgang Ullrich und Monika Rink. Ein Tag mit dem Ohr am Radio könnte kaum abwechslungsreicher sein.

Radio im Rückblick

Wie war es damals in der Nachkriegszeit, wie richteten sich die Entwurzelten wieder ein in der Welt? Der Essay, den die Münchner Autorin Ulrike Draesner am Nachmittag liest, handelt nicht vom Funk und der Arbeit am Text, aber er führt zurück in jene Zeit, in der der Stuttgarter Radio-Essay geboren wurde. Draesner erzählt von der Not, der Sparsamkeit, die zur Haltung wurde; sie erinnert sich an Bilder ihrer Kindheit und an Sätze wie diesen: „Du sollst es einmal besser haben“ - womit, das hört sie nun, immer auch gesagt wurde: „Uns geht es, uns ging es nicht gut.“ Draesners Vortrag, in dem sich Persönliches mit Allgemeinem mischt, ist ein überzeugendes Beispiel für den Essay im Radio und seine Möglichkeiten.

Literatur und Medien

Im Podiumsgespräch zwischen Albert Henrichs, der für den Verlag S. Fischer den literarischen Blog Hundertvierzehn.de betreut, und dem Schweizer Historiker Caspar Hirschi geht es um die Frage, ob die neuen Medien dem belletristischen und wissenschaftlichen Buch schaden oder nutzen. Henrichs stellt den Internetauftritt seines Verlages als ein Format vor, das in aller Breite dem Essay ebenso Raum bietet wie Listen, die den Musikgeschmack eines Autors publik machen. Hirschi schätzt und vermisst im Netz die Filterfunktion, die große und kleine Verlage haben können. Die digitalen Präsentationsformen bleiben hingegen bislang weit hinter seinen Erwartungen zurück: Er stellt sie sich multimedial vor, als eine „kunstvolle Wissenschaftsprosa“, die Essayistisches mit Ton- und Bildbeispielen verbindet, er träumt von einer „neuen Generation bibliophiler Netzaffiner“ - und hat sie noch nirgendwo gesehen.

Safranski und die Zeit

Den große Tag der großen Kulturmaschine beschließt zuletzt, vor großem Publikum, der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski mit einer Lesung aus seinem neuen Buch: „Zeit - Was sie mit uns macht und was wir mit ihr machen“ erscheint im August erscheinen. Safranski spricht über die Wahrnehmung der Zeit, darüber, wie sich diese Wahrnehmung mit der Zeit verändert. Sein Horizont ist gewohnt groß - die „Furie des Verschwindens“, zuerst gesichtet von Hegel, tritt auf, Nietzsche, Proust, Augustinus und Paul Virilio spielen mit. Zuletzt mündet alles in eine Meditation über Dasein und Endlichkeit, und Safranski stellt der Politik die utopische Aufgabe, für die Eigenzeit der Bürger einzutreten. Auch aus ihm schnurrt die Sprache lustvoll, klar, facettenreich und engagiert hervor: Im Radio würde man das gerne hören. Und kann es natürlich auch, denn SWR2 wird zwischen dem 14. und dem 18. September alle Vorträge aus dem Literaturhaus ausstrahlen..