Deckblatt der Mappe „1c Life“, herausgegeben von Sam Francis Foto: © Sam Francis Foundation

Das Kunstmuseum Stuttgart feiert zehnjähriges Bestehen und präsentiert die Schau „Künstlerbücher“ mit Werken der Sammlung Lucius.

„Worte und Bild sind Korrelate, die sich immerfort suchen.“ So zitiert Wulf D. von Lucius ein Wort des „Augenmenschen“ Goethe, um es selbst zu ergänzen: „. . . und im Künstlerbuch in den besten Fällen verschmelzen“. Tatsächlich lässt sich zur großen Retrospektive von Dieter Roth im Kunstmuseum Stuttgart keine glücklichere Erweiterung vorstellen als die Präsentation der Sammlung von Künstlerbüchern des Stuttgarter Ehepaars Wulf D. und Akka von Lucius. Mit über 600 Exemplaren gilt sie deutschlandweit als eine der reichhaltigsten.

Die unter dem Titel „Buch – Kunst – Objekt“ von Kuratorin Petronela Soltész getroffene Auswahl von 58 Exponaten lenkt die Aufmerksamkeit aus gutem Grund weniger auf kunsthistorische Belange als auf die enorme Vielfalt und Spannweite, die das „Künstlerbuch als Grenzphänomen“ (Viola Hildebrand-Schat) kennzeichnet. Zugleich wird es als „Ausdruck eines neuen Kunstbegriffs“ (Soltesz) bewertet. Gerade deshalb ist es im Museum wohl am besten aufgehoben, lässt sich dort jedenfalls leichter rezipieren als in jeder Bibliothek.

Diese Intention entspricht dem Bestreben der Sammler. „Unser Leitstern ist Vielfalt, nicht Vollständigkeit“, sagen sie und bekennen sich zu spontanen und unsystematischen Ankäufen, die gleichwohl einen Lernprozess befördern und zuletzt doch Zusammenhänge und Struktur ans Licht bringen. Wesentlich ist ihnen, dass Bild und Text, Künstler und Autor sich zusammentun und dass die bibliophilen Objekte, die so entstehen, so vielfältig und unterschiedlich wie nur möglich ausfallen – also weder vor ungewöhnlichen Materialien noch sperrigem oder unkonventionellem Format haltmachen. Nicht zufällig hat sich diese Grenzen missachtende künstlerische Gattung im 20. Jahrhundert entwickelt, weshalb „Buch – Kunst – Objekt“ zentrale Stationen der Moderne spiegelt.

Fast unvermeidlich hält das Künstlerbuch, in dem Bild und Text sich verbünden, auch Politik und Gesellschaft einen Spiegel vor. So beschwören die Texte von Pierre Reverdy, von Picasso in „Le Chant des morts“ blutrot markiert, Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs. Ganz aktuell wirbt „Mechachal: Shewa Ber“ (2011) von Clemens Tobias Lange für das Ideal friedlichen Zusammenlebens in der von Hunger und Krieg geplagten Region am Horn von Afrika. Für das Konglomerat von Ethnien und Religionen auf einem der größten Märkte dort hat der Künstler mit einem Mix aus Texten, Textilien und Fotografien ein Gleichnis gefunden.

„Freiheit, ich schreibe deinen Namen“, die Rubrik zum Leporello von Fernand Léger, ist freilich weniger als politischer Aufruf denn als Hommage an den befreundeten Dichter Paul Éluard aufzufassen. Dahingegen besitzt der Gedichtband „Affenkönig“, zu dem Jörg Immendorff etwa eine gebrechliche „Europa“ auf Kugeln wanken lässt, durchaus eine politische Dimension. Den Anstoß zur oppositionellen Haltung der Autorin Xu Pei gab das Tian’anmen-Massaker von Peking.

Charakteristisch ist für das Künstlerbuch, dass die Texte der Autoren, mit denen die Künstler sich auseinandersetzen, nicht im landläufigen Sinn illustriert werden. Jim Dine entwarf für eine Theateraufführung von Oscar Wildes „Bildnis des Dorian Gray“ Kostüme und Dekoration, darunter ein blutendes Herz. Zum Künstlerbuch „1 c/ LIFE“ zu Gedichten von Walasse Ting haben 28 europäische und US-Künstler Beiträge geleistet – ein atlantisches Bündnis.

Der Autor, Typograf und Verleger Ilya Zdanevitsch vereint in einer „Poésie des mots inconnues“ die Lautpoesie von 39 Künstlern und Dichtern zwischen 1910 und 1948 mit eigens dafür geschaffenen dadaistischen, kubistischen, futuristischen Grafiken. Hans Bellmer befreit die Puppe auf den elf Radierungen zu Kleists „Marionettentheater“ nach und nach von den Fäden des Strippenziehers. Die in Blindenschrift lediglich geprägten und so nicht jedermann lesbaren Gedichte von Paul Celan („Der Sand aus den Urnen“) traktiert Mischa Kuball mit Übermalungen in Acryl und meldet so Zweifel an der Wirkungsmacht von Sprache an. Grundsätzliches zum Thema Künstlerbuch steuert Gunnar A. Kaldewey mit „Books as Art. A Lecture“ bei, einen von ihm selbst 1990 gehaltenen programmatischen Vortrag, nach dem sich das amerikanische „Artist Book“ mehr und mehr der Skulptur annähert. Eine Pionierleistung auch der „Postversandroman. Spiel ohne Grenzen“ von Wolf Vostell mit Reportagen und Hörspielen von Peter Faecke. Von 1970 bis 1973 entstanden, ist das Stück als Objekt gewordenes Happening zu deuten und mit dem Schraubverschluss, der das Öffnen behindert, selbst eine unerledigte Aufgabe.

Letztlich kommt man an kein Ende – zu komplex sind die knapp 60 Exponate. Man kann in den Büchern nicht blättern, doch die Präsentation ausgewählter Seiten an der Wand oder in Vitrinen ist ein genießerisches Privileg, das sogar die Sammler bei sich zu Hause nicht alle Tage haben. „Wild Raspberries“ etwa, ein im Stil eines Gourmet-Kochbuchs gezeichnetes und handkoloriertes Spanferkel von Andy Warhol, parodiert die „feine“ New Yorker Gesellschaft der 1950er mit ihren üppigen Partys, was die nicht ganz ernst zu nehmenden Rezepte von Suzie Frankfurt ironisch unterstreichen. Julia Warhola, die Mutter des Künstlers, hat sie handschriftlich selbst übertragen.