Freihandelsabkommen sind für die Industrie wichtig. Entsprechende Verträge abzuschließen, ist in Europa Sache der Kommission. Foto: dpa

Ob bei der Regulierung, dem Freihandel oder dem Arbeitsrecht: Pauschalkritik an der EU ist nicht berechtigt. Häufig verschärfen die Mitgliedsländer die Vorgaben aus Brüssel.

Brüssel - Nach der Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, ist eine Debatte darüber entbrannt, ob Brüssel mehr oder weniger Kompetenzen gut täte. Nicht nur Populisten unter den Parteipolitikern gehen hart mit dem Brüsseler Betrieb und den Institutionen ins Gericht. Es kommen auch verstärkt Breitseiten von Unternehmern. Wirtschaftsvertreter warnen vor Überregulierung und fordern Europa auf, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Was ist dran an der Schelte?

Die Traktorensitzrichtlinie 78/764/EWG aus Brüssel steht symbolisch für die angebliche Regulierungswut der viel gescholtenen Brüsseler Bürokraten. Keine Frage, einige Passagen sind satirereif. Die Geschichte der Richtlinie erklärt aber auch viel über den Brüsseler Betrieb. Sie zeigt, dass EU-Kritik auch ungerecht sein kann: Der Anstoß zur Richtlinie für Traktorsitze kam nämlich aus Bayern. Ausgerechnet. Angesichts eines schärfer werdenden Wettbewerbs im Traktorbau wollte die CSU-geführte Landesregierung die bayerische Industrie gegen Konkurrenz aus den USA schützen und hoffte auf Rückendeckung aus Brüssel.

Bürokratie muss nicht schädlich sein

Die Kommission ist verpflichtet, Weisungen aus den Mitgliedsstaaten umzusetzen. Sie muss Formulierungen liefern, die von allen Mitgliedsstaaten akzeptiert werden. Heraus kommen dabei nicht selten unfreiwillig komische Sätze. Bürokratie muss aber nicht schädlich sein. Es gibt auch höchst nützliche Regulierung. Hierfür ein Beispiel: Bis 1995 gab es EU-weit kein einheitliches Typprüfungsrecht in der Automobilbranche. Bis dahin musste jedes neue Modell in jedem einzelnen Mitgliedsland neu zugelassen werden. Das ist inzwischen Geschichte. Daimler und Co. lassen nun einen neuen Typ nur einmal zu und können ihn im ganzen Binnenmarkt verkaufen. Das spart Aufwand und Geld.

Klaus-Heiner Röhl vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) schätzt, dass etwa die Hälfte der Vorschriften und Gesetze, die in Deutschland gelten, auf EU-Gesetzgebung zurückgeht. Der Rest sei „hausgemacht“, gehe also auf die Kappe der nationalen Parlamente. Röhl bescheinigt der Kommission unter Führung von Jean-Claude Juncker ausdrücklich, dass sie in Sachen Bürokratie auf dem richtigen Weg ist: „Die Botschaft ist angekommen, diese Kommission ist sichtlich bemüht, auf sinnlose Projekte zu verzichten. Sie hat sich vor allem Wachstum auf die Fahnen geschrieben und nicht Regulierung.“ Dennoch kritisiert er: „Es gibt zu viele Kommissare.“

Jedes der 28 Mitgliedsländer schickt einen Kommissar ins Berlaymont-Gebäude in Brüssel. „Als Arbeitsnachweis produziert jeder Richtlinien und Verordnungen, die national umgesetzt werden müssen.“ Immer wieder gebe es so Beschlüsse aus Brüssel, die überflüssig seien. Vielfach gehen aber auch Ministerien in den Mitgliedsländern bei der Umsetzung in nationales Recht noch über die Vorgaben aus Brüssel hinaus. Dies wird im Fachjargon dann „Vergolden“ genannt.

Deutsche Exportindustrie profitiert vom Binnenmarkt

Der Binnenmarkt mit 500 Millionen Verbrauchern und 240 Millionen Beschäftigten ist der große Trumpf der Gemeinschaft. Die Möglichkeit, ohne Zölle und zu den gleichen regulatorischen Standards Waren und Dienstleistungen auszutauschen, ist weltweit einmalig und sorgt für Jobs, Wohlstand und Wachstum. Vor allem die exportabhängigen deutschen Erfolgsbranchen wie Maschinenbau, Chemie und Automobil profitieren massiv. So erzielt die chemische Industrie zwei Drittel ihres Auslandsgeschäfts mit Kunden aus der EU. Deutsche Maschinenbauer haben eine Exportquote von 80 Prozent. Aus dem Automobilbau ist der Binnenmarkt nicht mehr wegzudenken. Bei einem durchschnittlichen Auto, das in Deutschland vom Band läuft, beträgt der Wertschöpfungsanteil europäischer Zulieferer mehr als 40 Prozent.

Mit der Globalisierung wird der Handel mit Drittstaaten immer wichtiger. Freihandelsabkommen, die Zölle und Handelsschranken beseitigen, sind daher für die Industrie wichtig. Verträge in der Handelspolitik abzuschließen, ist in Europa Sache der Kommission. Europa mit seiner Marktmacht von 500 Millionen Konsumenten ist durchsetzungsstärker als ein Land, das für sich alleine verhandeln würde. Auch die Stimme von Deutschland fände im globalen Konzert kaum Gehör. Ein Beispiel aus dem Maschinenbau: Ausfuhren deutscher Unternehmen nach Mexiko legten zwischen 2000 und 2015 um 125 Prozent zu. Für diese Erfolgsbilanz macht die Branche auch das Freihandelsabkommen zwischen den beiden Wirtschaftsräumen verantwortlich.

Derzeit verhandelt die Kommission mit Mexiko über das nächste Abkommen. Das Abkommen mit Kanada (Ceta) ist fertig, das Abkommen mit den USA (TTIP) ist bekanntlich hoch umstritten. Gespräche laufen mit so ziemlich allen Ländern, die die wichtigsten Absatzmärkte der deutschen Unternehmen darstellen. Brasilien, Japan und Australien sind darunter.

Europäisches Arbeitsrecht setzt nur Mindeststandards

Für den Berliner Arbeitsrechtler Laurenz Mayr gehört der Schwarze Peter für Überregulierung im Arbeitsrecht wenn überhaupt nach Berlin, nicht aber nach Brüssel. Vorgaben aus Brüssel seien ein „unverzichtbarer Beitrag zum freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften innerhalb der EU.“ Sie machten vielfach den Binnenmarkt überhaupt erst möglich, weil Unternehmer damit grenzüberschreitend einfacher tätig werden könnten.

Von wegen Brüsseler Regulierungswut. Mayr, der in Berlin eine Kanzlei für Arbeitsrecht hat, zieht dieses Fazit: „Europäisches Arbeitsrecht setzt in der Regel nur Mindeststandards.“ Vielfach lege der nationale Gesetzgeber noch eine Schippe drauf. Mayr macht dies an drei Beispielen fest: Bei der Arbeitszeit schreibt die EU vor, dass sie in der Woche nicht mehr als durchschnittlich 48 Stunden betragen darf. Dagegen schreibt das deutsche Arbeitszeitgesetz „in der Regel eine Wochenarbeitszeit von maximal 40 Stunden“ vor. Brüssel verlangt mindestens vier Wochen Urlaub im Jahr. „In der deutschen Praxis wird in der Regel ein höherer Mindesturlaub gewährt“.

Zweites Beispiel: Bei der Befristung von Arbeitsverträgen habe Deutschland aus der Vorgabe aus Brüssel „eine recht umstrittene Regelung gemacht“, die die Befristung nach einer Vorbeschäftigung verbiete. Die Rechtsprechung habe diese Regelung inzwischen zwar etwas aufgeweicht. Klar sei aber, dass der deutsche Gesetzgeber über die Vorgabe der EU hinaus gegangen ist: „Die Richtlinie hat eine solche Regelung nicht vorgesehen.“

Drittes Beispiel ist die Zeitarbeit, deren Reform zuletzt hierzulande für viel Diskussionen gesorgt hat. Brüssel könne dafür aber nicht in Haftung genommen werden: „Der in Deutschland geltende Schutz der Leiharbeitnehmer übersteigt den durch die EU-Richtlinie festgelegten Mindeststandard“, so Mayr weiter.