Ignace Murwanashyaka muss sich seit vier Jahren als mutmaßlicher Kriegsverbrecher vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht verantworten Foto: dpa

Per Telefon, E-Mail und SMS sollen sie von Baden-Württemberg aus Gräueltaten ruandischer Rebellen im Kongo koordiniert haben. Zwei Ruander stehen seit vier Jahren in Stuttgart vor Gericht – in einem der aufwändigsten Strafprozesse in der deutschen Justizgeschichte.

Stuttgart - Die Sonne strahlt vom leicht bewölkten, blauen Himmel. Die Bäume vor dem Eingang zum Stuttgarter Oberlandesgerichts (OLG) in der Olgastraße 2 erstrahlen in sattem Grün. Es riecht nach Frühling, selbst in der Großstadt. Drinnen, im Saal 6 des Justizgebäudes, ist von Frühling nichts zu spüren. Wie das Wetter draußen ist, lässt sich nur erahnen, wenn ein paar Sonnenstrahlen durch die engen Lichtschlitze im Dach des achteckigen, weiß getünchten Saals fallen.

Hier regiert die Monotonie der ewig gleichen Abläufe: Jeden Montag und jeden Mittwoch kurz vor 9.30 Uhr – gestern wegen eines unfallbedingten Verkehrsstaus erst eine Stunde später – werden die beiden Angeklagten von den Justizmitarbeitern in den Saal geführt. Erst Straton Musoni, 54, der einstige Vize-Chef der Hutu-Miliz FDLR („Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas“), gewohnt adrett gekleidet mit Hemd und Sakko. Er grüßt mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ in den Saal.

Kurz darauf nimmt Ignace Murwanashyaka, 51, Präsident der Rebellenorganisation, auf der Anklagebank Platz, wie immer mit einem bis oben zugeknöpften fliederfarbenen Hemd und einem Rosenkranz um den Hals.  Er lässt sich stets mit „Dr. Murwanashyaka“ anreden, würdigt manchmal weder seine Anwältin noch seinen früheren Stellvertreter eines Blickes. Sobald die sechs Richter den Raum betreten, werden den beiden Angeklagten die Handschellen abgenommen.

Seit dem 4. Mai 2011 geht das nun so. Seither müssen sich die beiden Ruander, die beide ordentlich Deutsch sprechen und die in Mannheim und in Neuffen (Kreis Esslingen) als nette Nachbarn galten, für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Rädelsführerschaft und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verantworten. Laut Anklage sollen sie von Deutschland aus per Satellitentelefon, SMS und E-Mail Mord, Vergewaltigung und Brandschatzung im Ostkongo koordiniert haben.

Es ist der erste deutsche Prozess nach dem 2002 eingeführten Völkerstrafgesetzbuch. Dieses ermöglicht deutschen Gerichten, Kriegsverbrechen selbst dann zu ahnden, wenn sie im Ausland begangen wurden. Laut Völkerstrafgesetzbuch sind Vorgesetzte für die Taten ihrer Untergebenen verantwortlich, nicht nur wenn sie diese befehligt, sondern auch, wenn sie diese nicht unterbunden haben. Aber hätte der in Mannheim lebende Murwanashyaka tatsächlich die Gräuel im kongolesischen Dschungel verhindern können? Nein, sagt die Verteidigung. Er sei nur ein FDLR-Repräsentant im Ausland, der die Miliz beraten, aber keine Kontrolle über ihren militärischen Arm gehabt habe. Ja, sagt hingegen die Anklage. Murwanashyaka habe sehr wohl Einfluss auf die militärische Seite gehabt.

Dass der 51-jährige promovierte Volkswirt zumindest umfassend über die Vorgänge im Kongo informiert wurde, zeigen die vor Gericht verlesenen SMS und E-Mails. „Wir grüßen Sie, Exzellenz“, heißt es in einer SMS an Murwanashyaka, mit der er am 17. Mai 2009 von den Einzelheiten eines Massakers in dem Dorf Busurungi erfuhr. Dort waren Ende April 2009 mindestens 96 Bewohner brutal niedergemetzelt worden – erschossen, erstochen, erschlagen, zerhackt.

Der zweite Angeklagte, Straton Musoni, spielte eine passivere Rolle in der FDLR-Führung als Murwanshyaka, was auch die abgehörten Telefonate zwischen den beiden belegen. Dort gibt sich der Computerspezialist einsilbig und hat immer wieder Ausflüchte, wenn er gebeten wird, noch aktiver bei der FDLR mitzuarbeiten. Im Gegensatz zu Murwanshyaka, der jegliche Aussage vor Gericht verweigert, hat Musoni an neun Verhandlungstagen seine Sicht der Dinge dargestellt und sich dabei als kleines Licht geriert – ohne Macht und Wissen.

Während Murwanashyaka lebenslange Haft droht, könnte Musoni mit neun Jahren davonkommen, nachdem der Senat angeregt hat, bei ihm die Anklage auf den Vorwurf der Rädelsführerschaft und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu beschränken.

Kann man von Baden-Württemberg aus Kriegsverbrechen im rund 6000 Kilometer entfernten Kongo aufklären?

An diesem Montag ist der 300. Verhandlungstag. Der Vorsitzende Richter Jürgen Hettich verliest fleißig Beweisanträge der beiden Angeklagten und die Begründungen des Senats, warum sie abgelehnt werden. Zeile für Zeile, hochkonzentriert, samt Anführungszeichen, Klammern, Gedankenstrichen, mal mit Einsprengseln in Englisch, Französisch oder in der Bantusprache Kinyarwanda. So wie in den fünf Verhandlungstagen zuvor auch schon, jeweils bis zu acht Stunden. Seine fünf Richterkollegen stützen derweil ihr Kinn gedankenverloren mal auf die rechte, mal auf die linke Hand und sinken dabei immer tiefer in ihre Sessel.

283 Beweisanträge haben die Verteidiger in den vergangenen vier Jahren gestellt, dazu 716 Verfahrensanträge. 37-mal müssen sich einzelne Richter oder der gesamte Senat einem Befangenheitsantrag stellen, siebenmal wird die Unabhängigkeit von Sachverständigen angezweifelt. Jurastudenten böte das Verfahren besten Praxisunterricht. „Hier wird die gesamte Klaviatur des Strafprozessrechts gespielt“, sagt Gerichtssprecher Stefan Schüler. Die Anträge der Verteidigung reichen von der Ladung eines kongolesischen „Königs“ und der einstigen Chefanklägerin des Ruanda-Tribunals, Carla Del Ponte, über die Anfertigung von Landkarten in speziellen Maßstäben bis hin zur Exhumierung der Leiche eines Ortsvorstehers aus dem Kongo.

Das Gericht betreibt einen enormen Aufwand, um die angeklagten Vorwürfe aufzuklären: Zeugen werden von Ruanda nach Stuttgart eingeflogen, FDLR-Opfer aus dem Kongo werden per Videoübertragung vernommen. Insgesamt 42 Zeugen werden geladen, darunter auch die frühere Generalbundesanwältin Monika Harms. Das Gericht verliest 631 Urkunden, nimmt 231 Dokumente, Filme, Karten in Augenschein und hört Mitschnitte der Telefonüberwachung an. Darüber hinaus werden unzählige SMS und E-Mails verlesen. Die Akten füllen mittlerweile mehr als 200 Ordner. Allein die Anklageschrift umfasst 189 Seiten.

„Es gab bisher noch keinen Prozess am Oberlandesgericht Stuttgart, der in diese Größenordnung gegangen ist“, sagt Schüler. Zum Vergleich: Das Verfahren gegen die Terroristen der Rote-Armee-Fraktion (RAF), Ulrike Meinhof und Andreas Baader, Mitte der 1970er Jahre dauerte 192 Verhandlungstage; der Prozess gegen drei Iraker, die als Mitglieder der Terrorgruppe Ansar al-Islam den damaligen irakischen Regierungschef beim Berlin-Besuch töten wollten, ging 2008 nach 142 Verhandlungstagen zu Ende.

Die Kosten für das mittlerweile 300 Verhandlungstage dauernde Verfahren gegen die beiden ruandischen FDLR-Führer dürften – zurückhaltend geschätzt – bei mehr als 4,5 Millionen Euro liegen. Das Gericht veranschlagt die Kosten pro Verhandlungstag auf rund 15 000 Euro.

Doch nicht nur der Umfang der Vorwürfe und die Komplexität der Beweisführung machen dieses Verfahren zu einem Mammutprozess für den 5. Strafsenat. Maßgeblichen Anteil daran, dass sich das Verfahren so sehr in die Länge zieht, haben die Verteidiger der beiden Angeklagten. Von den ursprünglich acht Verteidigern sind nur noch zwei an Bord, weshalb sich das Gericht veranlasst gesehen hat, zwei neue Pflichtverteidiger hinzuzubestellen, um zu verhindern, dass der Prozess platzt. Die Strategie der Verteidigung zielt nahezu ausschließlich darauf, Verfahrensfehler seitens des Senats zu provozieren. Das lässt auch der Bundesgerichtshof erkennen, der mehrfach eine Haftaussetzung für Musoni ablehnt und Zweifel daran hegt, „ob der Angeklagte Musoni und seine Verteidigung ein Interesse an einer zügigen Durchführung der Beweisaufnahme haben“.

Um das Verfahren zu beschleunigen, hat die Bundesanwaltschaft Anfang März auf Anregung des Vorsitzenden Richters Jürgen Hettich eingewilligt, das Verfahren in der Mehrheit der Anklagepunkte einzustellen. Dies sei bei so aufwendigen Prozessen üblich und ändere nichts am möglichen Strafmaß für Murwanashyaka, dem immer noch eine lebenslange Haft drohe, sagte Oberstaatsanwalt Christian Ritscher. Von ursprünglich 16 Anklagepunkten sind nun noch viereinhalb übrig, darunter aber die schwerwiegendsten wie eben das Massaker von Busurungi.

Der Prozess dürfte langsam auf die Zielgerade einbiegen. Ob aber noch vor den Sommerferien ein Urteil fällt, ist völlig offen – am 299. Verhandlungstag hat die Verteidigung wieder sechs neue Beweisanträge gestellt.