Mit einer Schreckschusspistole dieses Typs soll der Täter gedroht haben. Foto: Kraufmann

Ein 20-Jähriger ist wegen Kindesmissbrauchs angeklagt. Das Gericht versucht, in sein Denken einzudringen.

Böblingen - Mit einiger Gewissheit denkt jeder im Saal, was die Staatsanwältin Amira Kaiser ausspricht: „Als ich Ihre Freundin gesehen habe, dachte ich, das ist ein Kind.“ Gemeint ist die Freundin des Angeklagten. Die junge Frau hat zuvor als Zeugin ausgesagt. Ihr Alter, 21 Jahre, offenbart erst der Blick in ihr Gesicht. Ihre Statur gleicht der einer schmächtigen Zwölfjährigen. Ein Jahr jünger ist das Mädchen, das der Angeklagte auf dem Waldboden im Schönbuch vergewaltigt haben soll. Die Elfjährige hatte nach Einschätzung einer Polizistin Todesangst, weil der Täter ihr eine Schreckschusspistole zeigte.

Daran, dass der 20-Jährige verurteilt wird, herrscht kaum Zweifel. Er hat gestanden. Nur Details sind strittig. Das Gericht hat ihn anderthalb Stunden lang zum Tatablauf befragt. Die Öffentlichkeit war ausgeschlossen. Zeugenaussagen und Randbemerkungen erhellen das Geschehen dennoch. Welche Signale funken durch das Hirn dieses Mannes, welche Hormone durchkreuzen es? Wie groß ist die Gefahr, dass er eine solche Tat wiederholt? Ist er im Geiste überhaupt schon ein Erwachsener oder noch ein Jugendlicher?

Das Jugendrecht würde eine Bewährungsstrafe ermöglichen

Von den Antworten auf diese Fragen wird die Höhe der Strafe abhängen, ganz wesentlich, allein schon, weil ein Erwachsener für die Vergewaltigung eines Kindes mindestens fünf Jahre lang in Haft muss. Das Jugendrecht würde sogar eine Bewährungsstrafe erlauben. Der Angeklagte scheint mit Milde zu rechnen. Er erzählt, er wolle „mit meiner Freundin ein glückliches Leben beginnen“ und seine Lehre beenden, „wenn ich Bewährung bekomme“.

Die Staatsanwältin offenbart, was sie empfand, als sie die Akten las. Sie ist Mutter einer zehnjährigen Tochter. „Dass Sie sich nicht mit der Tat auseinandersetzen, macht mir Angst“, sagt sie. Auch die Richterin Cornelie Eßlinger-Graf hält sich mit Randbemerkungen in Richtung des Angeklagten keineswegs zurück. „Ich habe den Eindruck, Sie wissen nicht genau, wie es zwischen Männern und Frauen funktioniert“, sagt sie. Eine Vergewaltigung habe wenig mit Sex zu tun, viel mit Macht und Gewalt. Eben hat der 20-Jährige beteuert: „Ich garantiere, dass so etwas nicht mehr passiert, wenn ich eine richtige Beziehung habe“. Zu der fehlte, mit jener 21jährigen Zeugin, zumindest eines: der Sex.

Vieles an diesem jungen Mann ist ungewöhnlich

Vieles an diesem jungen Mann ist ungewöhnlich. Er besucht keine Feste. Er trifft keine Freunde. Er mag keinen Alkohol. Seine Freizeit verbringt er fast ausschließlich beim Bogenschießen. Er geht gern mit seinem Vater im Wald auf die Pirsch und regelmäßig in die Kirche. Frauen, Mädchen, versucht er im Internet kennenzulernen, mit dem immer gleichen Spruch, wie die polizeiliche Untersuchung seines Handys ergab. Unter jungen Frauen, die er aus dem Dunstkreis seiner ehemaligen Schule kennt, war die Masche längst bekannt.

Die Versuche, in sein Denken einzudringen, sind vielfältig. Der psychiatrische Gutachter Michael Günter will von ihm wissen, warum er jedem Streit aus dem Weg geht. „Haben Sie womöglich Angst vor Ihrer eigenen Reaktion?“ Er habe Angst vor einer gebrochenen Nase, sagt der 20-Jährige, ansonsten sei ihm Streit unangenehm. Der Verteidiger Ralf Kowarsch stellt fest, dass zwischen Freundin und Opfer „eine gewisse Ähnlichkeit besteht“ und will wissen, ob der Angeklagte bei der Tat womöglich an die junge Frau dachte, die sich ihm verweigerte. Nein, gar nicht, antwortet sein Mandant. Der Anwalt fragt erneut, mehrfach. Der Angeklagte scheint die Absicht nicht zu verstehen. Die Antwort bleibt die gleiche.

Der junge Mann hat einen Lebenslauf ohne nennenswerte Brüche. Er besuchte das Gymnasium, begann direkt danach die Lehre. Er formuliert etwas hölzern, aber in gehobenem Deutsch. Als er erklären will, warum „so etwas Schreckliches nie mehr passiert“, fehlt ihm ein Wort. Sein Anwalt habe ihm etwas empfohlen. Er sieht den Verteidiger an. „Eine Therapie“, sagt Kowarsch. Die Schreckschusspistole, die der 20-Jährige bei der Tat dabei hatte und die Hose, die er trug, hat die Polizei beschlagnahmt. Die Richterin fragt, so ist es üblich, ob er auf die Rückgabe der Beweisstücke verzichtet. Auf die Waffe schon, sagt der Angeklagte, die Hose hätte er gern zurück.