Michael Russ Foto: Kraufmann

Der Stuttgarter Konzertveranstalter Michael Russ erzählt zum 65. Geburtstag Musiker-Anekdoten.

Stuttgart - Michael Russ, Chef der traditionsreichen Südwestdeutschen Konzertdirektion Stuttgart (SKS), feiert am 15. Mai seinen 65. Geburtstag. Zeit für ein Gespräch über Stars, Marotten, Politik.

Herr Russ, man käme auf den ersten Blick nicht auf die Idee, Sie seien schon 65. Wie geht es Ihnen?

Na ja, das Knie macht Probleme. Bin aber selbst schuld, vergangene Woche habe ich dreimal Fußball gespielt und bin 120 Kilometer mit dem Rad gefahren.

Wann haben Sie zum letzten Mal ein Konzert genossen, ohne irgendwann als Veranstalter hinter die Bühne zu eilen?

Nicht lange her. Ich war in der Berliner Philharmonie beim Konzert des Freiburger Barockorchesters, es gab Beethovens "Eroica" und Mendelssohns zweites Klavierkonzert. Heute bin ich auch als Veranstalter viel ruhiger als früher. Stresssituationen sind selten geworden, vor allem, seit ich weiß, dass meine Tochter Michaela hinter mir steht.

Finden Sie mehr Ruhe, weil zumindest die Klassikkünstler heute pflegeleichter sind?

Nein, das würde ich nicht sagen. Ich habe aufgrund meines Alters die Erfahrung, die Gelassenheit. Typen mit Ecken und Kanten gibt es heute wie damals.

Beginnen wir mit damals. Einer Ihrer Lieblingsfälle mit Ecken und Kanten war der italienische Pianist Arturo Benedetti Michelangeli.

Kann man so sagen. Es bestand bei ihm immer die Gefahr, kurzfristig ein Konzert abzusagen oder nicht auf die Bühne zu gehen. Einmal, in den siebziger Jahren, hat er definitiv nicht gespielt. Das Publikum war schon im Beethovensaal, ich musste auf die Bühne und absagen.

Was war der Grund?

Michelangeli hat gesagt, er fühle sich körperlich nicht gut.

Wie erklären Sie sich dieses Verhalten?

Ich habe Verständnis. Ein großer Künstler wie Michelangeli hat einen ungeheuren Perfektionsdrang. Für ihn gibt es nur das Beste, er fühlt sich dem Komponisten verpflichtet, und wenn er das Gefühl hat, er kann nicht alles geben, lässt er es lieber bleiben.

Mit Michelangeli hatten Sie einen zweiten problematischen Abend . . .

. . . ja, er wollte wieder nicht im Beethovensaal spielen. Aber diesmal ist mir ein Trick eingefallen. Michelangeli war ein Autonarr, er liebte Rennwagen und fuhr selbst welche. Als er nicht rausgehen wollte, habe ich gesagt: Wenn du spielst, kannst du morgen einen Mercedes C 111 fahren, den besorge ich dir. Der C 111 war der erste Sportwagen mit Wankelmotor - und Michelangeli hat tatsächlich gespielt. Den Wagen konnte er am nächsten Tag leider nicht fahren, weil gerade der Motor ausgebaut worden war. Aber ersatzweise durfte er mit einem SL auf die Mercedes-Teststrecke. Danach hatten wir ein freundschaftliches Verhältnis.

Wer sind die Exzentriker der Gegenwart?

Das Konzertgeschäft hat heute eine neue Dimension. Einige Pianisten spielen nur noch auf ihrem eigenen Instrument, etwa der Ungar Andras Schiff und der Pole Krystian Zimerman. Wir müssen ihre Flügel in den Konzertsaal transportieren lassen, das ist nicht nur ein logistisches Problem, es ist auch sehr teuer. Krystian Zimerman lässt seinen Steinway in der Nacht vor dem Konzert auf die Bühne schaffen und danach unter ein Stoffzelt stellen. So glaubt er, überall seinen einzigartigen Klang herzustellen.

Krystian Zimerman hat auch ein spezielles Abrechnungssystem . . .

. . . er ist vermutlich der letzte Künstler, der sich nach alter Sitte in bar in der Konzertpause hinter der Bühne auszahlen lässt. Bis in die neunziger Jahre hinein war es gang und gäbe, zumindest einen Teil der Gagen in bar zu übergeben. Da musste ich oft Zigtausend Mark in bar bei mir haben. Heute hat sich, auch im Unterhaltungsgeschäft, die bargeldlose Zahlung durchgesetzt und die Vorauszahlung eingebürgert. Das erklärt die langen Vorverkaufszeiten.

Der Musikmarkt ist im Umbruch, nicht nur im Popbereich. Ist die Lage ernst?

Finanziell ist es in der Klassik schwieriger geworden. Auf dem freien Markt sind wir auf Mäzene und Sponsoren angewiesen. Oft sind das Banken. Vor allem in Amerika, wo man keine Subventionen kennt wie bei uns, gibt es immer weniger Geldgeber. Und die Logistik wird immer teurer, die Orchester bestehen auf die besten Flüge und Hotels.

Wie steht es um den Konzertbesuch?

Es ist schwierig, der Überalterung des Klassikpublikums entgegenzuwirken, mehr junge Leute zu gewinnen. Das Problem haben wir in ganz Deutschland. In Stuttgart gelingt es uns nur schwer, Studenten von der Musikhochschule in Konzerte zu holen.

Andererseits sagt man, die Klassik habe sich dem Publikum geöffnet, die Grenzen zwischen E wie ernst und U wie Untererhaltung seien durchlässig geworden.

Das stimmt. Warum sollte heute ein Klassiker nicht in ein Musical gehen und ein Popfan nicht in Beethovens neunte Sinfonie? Alles ist lockerer geworden, aber die Überalterung ist und bleibt unser Hauptproblem.

In der Klassik läuft heute vieles wie im Pop. Die Künstler sind gestylt wie Popstars.

Durch das Internet hat der Besucher viel mehr Informationen als früher. Entsprechend muss er gefüttert werden. Viele Mechanismen des Pop wurden in die Klassik übernommen, das begann mit den Auftritten der Drei Tenöre in Hallen und Stadien. Heute haben wir gigantische Open-Air-Konzerte mit Künstlern wie Anna Netrebko oder Lang Lang. Das steigert aber nicht unbedingt die musikalische Qualität.

Sie sind auch Produzent von Konzerten. Sie bestimmen, wer spielt. Nach welchen Kriterien sucht man Künstler aus? Manche sagen, dahinter stecke eine Mafia wie im Boxsport.

Der Vergleich mit dem Boxsport ist insofern nicht so falsch, als ein Klassikveranstalter auch eine Art eigenen Stall unterhält, also eine Zahl von Solisten, Ensembles und Orchester. Ausschlaggebend aber sind Hörerlebnisse und der Austausch mit seriösen Kollegen. Man darf auch nicht vergessen, dass wir heute viele wichtige Musikwettbewerbe haben. Bei der Abonnementgestaltung ist es so, dass man bei zehn Konzerten acht mit großen Namen besetzen muss - und dennoch Talente einbauen sollte.

Ihr Liebling im Klassikstall ist die Geigerin Anne-Sophie Mutter . . .

. . . keine Frage. Sie ist übrigens ein gutes Beispiel für die Akzeptanz von zeitgenössischer Klassik. Wenn Stücke, die für sie geschrieben wurden, von ihr selbst interpretiert werden, werden sie akzeptiert. Bei anderen Interpreten kann es passieren, dass die Leute aus dem Saal rennen.

Was sind die schönsten Momente in Ihrem Berufsleben?

Meine nobelste Arbeit ist zweifellos die Zusammenstellung meiner Abonnementsreihen, das Ziel zu erreichen, die Creme de la Creme zu engagieren.

Reden wir über Popstars. Die Forderung, den eigenen Flügel aufzustellen, wäre in dieser Szene eher eine Bagatelle.

So ist es. Ein ähnlich unsicherer Kandidat wie Michelangeli war zum Beispiel der amerikanische Rockstar Frank Zappa. Erstens musste man auch bei ihm damit rechnen, dass er nicht spielte, und zweitens ließ er sich spezielle Dinge einfallen. Als er mal in der Böblinger Sporthalle auftrat, stand auf seiner Cateringliste ein sehr teurer Wein, ein Petrus speziellen Jahrgangs. Die Sorte war beim besten Willen in Stuttgart nicht aufzutreiben. Das Feinkostgeschäft Böhm hat schließlich ein Restaurant in Frankreich ausfindig gemacht, das uns den Rotwein des gewünschten Jahrgangs geliefert hat. Als wir Zappa den Wein in die Garderobe gebracht haben, hat er ihn entkorkt - und aus der Flasche getrunken. Ich war erschüttert.

Und Zappa, war er zufrieden?

Absolut. Er ist aufgetreten.

Wie verhielt sich Frank Sinatra bei seiner Show in den Neunzigern vor dem Neuen Schloss?

Er hatte viel getrunken, es war fast etwas tragisch. Sein Auftritt war aber trotz allem berührend und beeindruckend. Zuerst wollte er im Hubschrauber auf dem Schlossplatz landen. Dafür haben wir keine Genehmigung erhalten und deshalb den Helikopter zum Wasen umgeleitet. Dort war am selben Wochenende sowieso die Open-Air-Show der Rockband U2. Anschließend wurde Sinatra mit dem Auto in die Stadt gefahren. Wir haben ihn im Neuen Schloss im Dienstzimmer der Kultusministerin Schavan untergebracht. Das hat ihm gefallen.

Moment, da war noch die Sache mit Frank Sinatras Chauffeur . . .

. . . unterwegs in der Stadt ist die Limousine an einem mexikanischen Lokal vorbeigefahren. Frank Sinatra hat das Kneipenschild gesehen und gerufen: "Verdammt, ich habe euch doch gesagt, dass ich nie mehr in Mexiko auftrete."

Es gibt auch Gentleman-Geschichten.

Als der Rockstar Carlos Santana zum ersten Mal bei uns spielte, in den Siebzigern, kam er zu mir und sagte: "Ich habe gehört, du kannst Tennis spielen. Du musst mir das beibringen." Ich habe einen Platz beim Neckarstadion gebucht, und wir haben gespielt. Das haben wir später vor jedem seiner Konzerte gemacht, manchmal haben wir sogar mit seiner Crew kleine Turniere veranstaltet. Eines Tages aber bin ich nicht mehr gegen ihn angetreten. Ich hatte keine Chance mehr. Carlos war zu gut geworden.

Als Konzertveranstalter müssen Sie oft den Psychologen spielen. Da gab es diese Begegnung mit Elton John . . .

. . . das war in den Achtzigern in der Schleyerhalle. Elton John kam zu mir und sagte: "Da unten, in Reihe sieben sitzt ein blonder, hübscher Junge. Ich will, dass der nach der Show in meine Garderobe kommt. Wenn du mir nicht versprichst, dass er das macht, spiele ich nicht." Elton John war bekannt dafür, dass er solche Dinge ernst meinte. Ich bin also runter zu dem Jungen und habe gesagt: Wenn du jetzt nicht sofort mit dem Kopf nickst, bin ich verloren. Der Junge hat mit dem Kopf genickt, und wie die Sache weiterging, geht niemanden etwas an.

Herr Russ, über 40 Jahre Musikgeschäft in Stuttgart - wie beurteilen Sie das kulturelle Niveau der Stadt?

In der Klassik hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Wir haben heute sehr viele gute Konzertreihen und Institutionen, denken Sie an die Bachakademie. Stuttgart ist eine Chorstadt mit berühmten Dirigenten wie Helmuth Rilling und Frieder Bernius. Und pro Jahr finden in Stuttgart mehr als 100 Sinfoniekonzerte statt, das muss eine andere Stadt erst einmal vorzeigen.

Man hat nicht das Gefühl, dies werde entsprechend vermarktet und dargestellt.

Nein, mit diesen Pfründen wuchert man nicht in Stuttgart. Das ist ein altes Problem der Stadtpolitik, der Stadtwerbung.

Sie fordern seit Jahren eine neue Konzerthalle, weil die Liederhalle überlastet ist.

Stuttgart 21 wäre eine Chance, eine neue Halle zu bauen, auch wenn meine Forderung nach einem Konzerthaus nicht von Stuttgart 21 abhängt. Tatsache ist, dass das Marketing für Stuttgart 21 seit je völlig dilettantisch ist. Ich bin zwar nicht dafür, Teile des Hauptbahnhofs abzureißen. Aber wenn man schon ein neues Stadtviertel baut, dann muss man es mit Kulturprojekten beleben. Das ist überhaupt keine Frage.

Sie sind Mitglied etlicher Kulturgremien. Werden Sie von der Stadt um Rat gefragt?

Selten. Die Kommunikation ist bei uns nicht ausgeprägt. Als es unlängst um die Kürzung von Subventionen ging, hätte ich gern meinen Rat angeboten. Mich hat niemand angerufen.

Wie wichtig sind heute noch Medien wie Rundfunk und Fernsehen?

Für die Klassik sind Rundfunksendungen wie auf SWR 2 sehr wichtig. Im Fernsehen wäre die Abschaffung von Arte und 3 Sat eine Katastrophe, dort besteht nach wie vor die Chance, Talente nach vorne zu bringen.

Herr Russ, Ihr großes Fußballtalent müssen Sie zurzeit wegen Ihrer Verletzung etwas zügeln. Sind Sie wenigstens mit Ihrem Club, dem VfB, zufrieden?

Ja, das war eine fantastische Leistung in der Rückrunde. Hut ab!