Viele Grüne auf Bundesebene rümpfen über ihn die Nase. Dabei hat Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann genau das, was der Partei derzeit fehlt.

Stuttgart - Die Grünen sind gerade keine glückliche Partei. Se sind sogar ziemlich von der Rolle. Ihnen ist mit dem gesellschaftlichen Ausstieg aus der Atomkraft das große identitätsstiftende Thema abhanden gekommen. Die Ablehnung von jeglichen militärischen Interventionen taugt schon lange nicht mehr zur grünen Selbstvergewisserung. Joschka Fischer hat ihnen den Anti-Militarismus vor 15 Jahren ausgetrieben. Wenn nun Parteichef Cem Özdemir Waffen für die Kurden fordert, den Terror der IS-Milizen könne man nicht mit der Yoga-Matte unterm Arm bekämpfen, dann gibt es zwar Protest, es folgen ihm aber weite Teile der Partei. Festzuhalten bleibt: Die urgrünen Symbole, die weiße Friedenstaube auf blauem Grund und die „Atomkraft Nein danke“-Sonne auf rotem Grund, sind Geschichte.

Und was kommt jetzt? Diese Frage ist ungeklärt, und das beunruhigt die von großem Veränderungswillen geprägte Partei. Es reicht den Mitgliedern nicht mitzuregieren, was sie in etlichen Ländern auch mit ordentlichem Erfolg tun, sie wollen gestalten. Die Grünen versuchen es mit dem Umbau der Landwirtschaft auf schonendere Produktionsmethoden. Kein schlechtes Thema, doch so richtig zündet es nicht.

Die Grünen sind verschreckt, weil sie im letzten Wahlkampf als Verbotspartei verbrämt wurden. Warum die ganze Aufregung? Weil die Grünen in ihrem Wahlprogramm empfohlen haben, dass Kantinen an einem Tag in der Woche kein Fleisch auf die Teller packen. So abwegig ist diese Empfehlung ja nicht. Nur, wenn man es macht, dann müssen auch die Führungsfiguren der Partei selbstbewusst dazu stehen und den Veggie-Day verteidigen, statt resignativ einzuknicken.

Das Dilemma mit dem Thema der Grünen kam auch beim Hamburger Parteitag zum Ausdruck. Sie leisteten sich eine „Freiheitsdebatte“. Etliche in der Partei hatten damit schon deswegen ein Problem, weil sie allein wegen des Begriffes Freiheit eine Anbiederung an die mit dem Ende des parlamentarischen Liberalismus heimatlos gewordenen FDP befürchten. Die spannende Frage klammerten sie freilich aus: Wie wollen es die Grünen mit der Freiheit im Umgang mit der Wirtschaft halten? Sie trauten sich wohl nicht, sich damit zu beschäftigen. Vermutlich ist es mit dem Freiheitsbegriff etlicher Grüner nicht so weit her, wenn es um unternehmerische Entscheidungen geht.Bei Banken, Finanzprodukten, auch beim Hausbau und Renovierung haben es die Grünen ja mehr mit der Regulierung.

Zur Orientierungslosigkeit bei den Inhalten kommt Frust mit dem Führungspersonal. Die Parteichefs, Cem Özdemir und Simone Peter, harmonieren nicht, die Fraktionschefs, Toni Hofreiter und Kathrin Göring-Eckhardt, schlagen nicht durch. Aus Sicht vieler Berliner Grünen haftet dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann etwas Verschrobenes, Provinzielles an. Hinter vorgehaltener Hand machen sich manche über ihn lustig. Das ist ein gewaltiger Fehler: Kretschmann ist einer der ganz wenigen Politiker der Grünen, der es versteht, eine Brücke ins bürgerliche Lager zu schlagen. Er kann für die Grünen neue Wählerschichten erschließen. Wer ihm in Hamburg zugehört hat, weiß warum er die Menschen erreicht. Er ist authentisch. Etwa beim für die Grünen heiklen Thema Asyl hat er sich tief hinein gedacht in die Probleme. Er schafft es, sein Ringen mit einer schwierigen Entscheidung zu transportieren und das Ergebnis überzeugend zu vertreten. Da wirkt er, der eigentlich kein glänzender Redner ist, fast charismatisch. Die Grünen brauchen mehr davon. Es ist ein Jammer, dass dieses Kretschmann-Potenzial von zu wenigen in der Berliner Grünen-Zentrale erkannt wird.