Coach Jürgen Kramny, VfB Stuttgart im Training: schwere Zeiten Foto: dpa

Ganz gleich wie die Bundesliga-Saison für den VfB Stuttgart noch endet. Der Patient kann nur genesen, wenn im Frust nicht der eine oder andere Skalp gefordert wird. Ein Kommentar von Gunter Barner.

Stuttgart - Die Helden vom VfB Stuttgart eigentlich auch mal an den Blutdruck ihrer Kunden? Hat auch nur einer jemals den Puls derer gefühlt, die mit schlotternden Knien an einem Abgrund stehen, der tiefer reicht als der Blick vom Fernsehturm? Wer tupft den Brüdern und Schwestern in den weiß-roten Gewändern den Angstschweiß von der Stirn? Wer beugt vor gegen die Schwermut der Verspotteten? Stattdessen gönnen sie sich ein Turbo-Trainingslager auf Malle. Schnell noch ein bisschen chillen, meine Herren, oder? Könnte ja anstrengend werden, heute Abend, bei Werder Bremen.

Schimpfen Sie ruhig, pflegt der Therapeut an dieser Stelle zu sagen, das beruhigt die Nerven und entspannt die Gefäße. Na. geht’s wieder besser? Okay, dann lassen Sie uns versuchen, die Krankheiten des Dauerpatienten VfB einmal ohne Wutanfälle zu analysieren. Es ist ja nicht so, dass die neue Führungsmannschaft die Beine hoch legt. Präsident Bernd Wahler hat vielleicht ein bisschen länger gebraucht als erhofft, um die innere Struktur auf zeitgemäß und effizient zu schalten. Immerhin ist die Direktorenschwemme beseitigt, die Verantwortlichkeiten sind klar geregelt, ein neuer Finanzchef ist mit frischen Ideen am Start, und wie der Club seine Mitglieder einbezieht auf dem Weg in die Zukunft, ist doch ein Paradebeispiel gelebter Mitbestimmung.

Schon wieder Abstiegsgefahr

Bla, bla, bla. Und warum schwebt der Club dann schon wieder in Abstiegsgefahr? Weil alles, was die neue Führungsriege an Aufräumarbeiten auf den Weg gebracht hat, nicht von heute auf morgen seine Wirkung entfaltet. Weil eine Fehler-Kette, die sich Jahre manifestierte, nicht per Knopfdruck zu sprengen ist. Und weil niemand etwas dafür kann, dass sich mental robuste Spieler reihenweise zum ungünstigsten Zeitpunkt dieser Spielzeit verletzen.

Was aber nur beweist, dass der VfB den Weg weitergehen sollte, den er mit Sportvorstand Robin Dutt schon eingeschlagen hat. Die Mannschaft braucht noch mehr Typen, die bedingungslos nach Erfolgen jagen, die Niederlagen persönlich nehmen. Alles ist immer noch ein bisschen zu nett, zu unverbindlich. Nach ein paar Erfolgen schläft die Aufbruchstimmung unmerklich wieder ein. Man muss Dutt sicher nicht die Füße küssen angesichts der Früchte seine Personalpolitik. Aber hat schon mal jemand einen Porsche für zwei Euro fuffzig gekauft? Neben ein paar Enttäuschungen wie Toni Sunjic und Artem Kravets gibt es auch Personalien, die Anlass zur Hoffnung geben: Sery Dié, Emiliano Insua, Lukas Rupp und Kevin Großkreutz. Und weil die Zeiten ein für allemal vorbei sind, als vor der großen Hausnummer 1893 die Trainer noch Schlange standen, ist es auch kein Fehler, weiter auf einen Coach zu vertrauen, der den Verein im Herzen trägt: Jürgen Kramny. Nur zu Erinnerung: Auch Joachim Löw ist einst mit dem VfB gewachsen.

Zeit, Geduld, Vertrauen

Der Patient braucht Zeit, Geduld, Vertrauen und Zuversicht, um zu genesen. Die Ausgliederung, am besten in eine Aktiengesellschaft, spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie schafft wirtschaftliche Handlungsspielräume, die der VfB dringend braucht, um den Anschluss an die Konkurrenz nicht endgültig zu verlieren. Sie erlaubt nötige Investitionen in die Infrastruktur und ermöglicht, die Mannschaft wirksam zu verstärken. Nach fast zwei Jahrzehnten sportlicher und personeller Konzeptionslosigkeit, nach Präsidententausch, Managerwechseln und unzähligen Trainerrauswürfen verfügt der VfB endlich wieder über Pläne und Visionen, die unabhängig von der aktuellen sportlichen Situation reifen müssen. Weshalb es der alte Fehler wäre, im Frust den einen oder anderen Skalp zu fordern. Die Vergangenheit lehrt ohnehin: Den Blutdruck senkt es nur für kurze Zeit.

gunter.barner@stuttgarter-nachrichten.de