Hält Kurs in ihrer Flüchtlingspolitik und eckt damit an: Bundeskanzlerin Angela Merkel, hier auf Wahlkampftour in Mecklenburg-Vorpommern. Foto: dpa

Die Entscheidung vor einem Jahr, syrischen Flüchtlingen den Weg nach Deutschland zu ebnen, ist zum mit Abstand tiefsten Einschnitt in Merkels Kanzlerschaft geworden. Für ein abschließendes Urteil ist es allerdings zu früh, meint Chefredakteur Christoph Reisinger.

Stuttgart. - Alles schien klar. Bis vor einem Jahr wies die Regierungszeit der Kanzlerin Angela Merkel alle Merkmale eines bundesrepublikanischen Biedermeiers auf; einer Phase des selbstzufriedenen, wohligen Zurücklehnens nach den Anstrengungen des Kalten Krieges, nach den ersten schweren Erschütterungen durch den islamistischen Terrorismus, nach der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Rosskur Agenda 2010. Dieses Biedermeier hieß: viel Befindlichkeitspflege und „Wir gönnen uns was“, Nabelschau im Umgang mit Nöten und Konflikten dieser Welt. Und bloß kein Aufbruch.

Mittendrin eine Regierungschefin, die weiten Teilen der Bevölkerung das Gefühl vermittelte, das könne ewig so weitergehen. Eine Verwalterin, keine Gestalterin. Mutti, bis auf die Knochen pragmatisch. Dass niemand klar sagen konnte, wofür, wogegen sie steht – wen hat’s geschert?

Seit einem Jahr ist alles anders. Mit ihrer Entscheidung, syrischen Flüchtlingen an der EU und an geltenden Verträgen vorbei den Weg nach Deutschland zu ebnen und mit ihrem „Wir schaffen das“-Satz hat Merkel das bundesrepublikanische Biedermeier jäh beendet. Zwischen Zuwanderungsrekorden, steigenden Kosten, hitzigen Debatten, Behelfsunterkünften und Flüchtlingen, die auf Autobahnen marschierten, konnte jeder erkennen: Auch in Form von Völkerwanderung ist die Globalisierung voll in Deutschland angekommen.

Das verunsichert die meisten Menschen im Land. Verständlich. Das ärgert viele. Zu Recht, wo es um die hausgemachten Fehler geht. Versäumnisse, für die selbstverständlich eine Regierungschefin in der Verantwortung steht. Beginnend bei der mangelnden Vorbereitung auf eine Entwicklung, die seit Jahren absehbar war. Verschlimmert durch die Aufnahme von Flüchtlingen ohne Registrierung, durch eine ungerechte Lastenverteilung im Land und in Europa. Verschärft durch Missachtung auch legitimer Anliegen und Sorgen der aufnehmenden Bevölkerung.

Merkel hat keine einfachen Antworten

Nur, Merkel hat die Globalisierung nicht erfunden. Sie hat – und das spricht klar für sie – auch nicht wie andere versucht, naive Gemüter glauben zu machen, in nationalen Alleingängen, mit ein paar Kontrollen oder Zäunen an der Grenze seien ausgerechnet so tief greifende Globalisierungsfolgen wie Zuwanderung oder Terrorismus in den Griff zu kriegen. Was Deutschland zuletzt erlebt hat, wird Europa mit schwankender Intensität auf Jahrzehnte belasten. Zumindest solange das Wohlstandsgefälle und die Mobilität in der Welt so hoch bleiben wie jetzt.

Merkel hat darauf keine einfachen Antworten, keine fertigen Lösungen. Sie weiß also keinen Weg zurück ins Biedermeier. Es ist genau das, was ihr derzeit so viele so sehr verübeln. Alle anderen haben diese Antworten aber auch nicht. Erst recht nicht jene, die frech das Gegenteil von sich behaupten.

Wer diese Kanzlerin schon abschließend beurteilt, läuft Gefahr zu übersehen: Was nach dem Biedermeier kommt, hat gerade erst begonnen. Die Politik kann vorerst nur auf Sicht fahren. So muss sich noch weisen, ob Merkel die Weichen im Grundsatz richtig oder falsch gestellt hat.

Sichtbar geworden ist in den vergangenen zwölf Monaten allerdings eine Frau, die auf ihre späten politischen Tage klarer Position bezogen hat denn je – und Kurs hält. Obwohl das unter den obwaltenden Umständen besonders viel Beliebtheit kostet und die Wiederwahl aufs Spiel setzt. Das ist Haltung und verdient Respekt. Egal, ob man Merkels Position teilt oder nicht.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de