Der Philosoph Jürgen Habermas (Mitte) mit SPD-Parteichef Sigmar Gabriel (links) und EU-Präsident Martin Schulz. Der Parteivorstand der SPD traf sich zu einer zweitägigen Klausurtagung. Foto: dpa

Philosoph Jürgen Habermas wirft der großen Koalition eine falsche Europapolitik vor. Bei einer Klausurtagung der SPD-Spitze warnt er vor der Übermacht der Finanzmärkte. Die SPD verspricht den Bürgern mehr Regulierung.

Philosoph Jürgen Habermas wirft der großen Koalition eine falsche Europapolitik vor. Bei einer Klausurtagung der SPD-Spitze warnt er vor der Übermacht der Finanzmärkte. Die SPD verspricht den Bürgern mehr Regulierung.

Potsdam - Einsam schlendert der Mann mit der Baskenmütze durch den Nieselregen. Als er das Foyer des Hotels am Ufer des Templiner Sees in Potsdam betritt, fühlt sich zunächst niemand für ihn zuständig, um ihm den Mantel abzunehmen. Erst nach und nach erkennen die SPD-Granden, dass es sich um ihren Ehrengast handelt. Und Jürgen Habermas ist nicht gekommen, um die SPD-Spitze bei ihrer Klausur zu loben. Einer der bekanntesten Vordenker der Gegenwart redet der SPD am Sonntag ins Gewissen.

Der 84 Jahre alte Verfechter der europäischen Idee soll den Status quo Europas skizzieren. Es ist bekannt, dass er die Politik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für falsch hält. Aber er betont nun auch an die Adresse der SPD: Es sei beunruhigend, dass auch die geplanten Maßnahmen der neuen Bundesregierung „die Ursachen der Krise überhaupt nicht berühren“. Es gebe eine „europaumarmende Sonntagsrhetorik“, aber eine andere Realpolitik.

Es gebe „eine strikt anlegerfreundliche Politik“. Eine erzwungene Sparpolitik zulasten von Löhnen und Sozialleistungen sei kontraproduktiv. „Um den Preis der politischen Entwürdigung ganzer Völker“ und des sozialen Absturzes werde alles dafür getan, dass Investoren wieder zurückkehren, tadelt Habermas.

Es gebe ein enormes Legitimationsdefizit für die durch die Rettungsaktionen geschaffenen Fakten, betont der Philosoph. Ihm antwortet der Präsident des Europaparlaments und Spitzenkandidat für die Europawahl, Martin Schulz. Oft sei der Fortschritt ja eine Schnecke, „aber dieses Mal könne sie einen Sprung machen.“

Denn der EU-Kommissionspräsident soll nach dieser Europawahl nicht mehr ausgekungelt, sondern federführend vom Parlament bestimmt werden. Schulz strebt dieses Amt an. Künftig könnte dann auch der Einfluss auf die Rettungspolitik ein anderer sein. Zugleich hat sich auch die SPD vorerst von Dingen wie einer Vergemeinschaftung von Schulden verabschiedet. Bei der Klausur ist viel vom Politikwechsel und „Europa neu denken“ die Rede.

Aber wie? Schulz soll die 20,8-Prozent-Schmach bei der Europawahl 2009 vergessen machen. SPD-Chef Sigmar Gabriel räumt ein, dass bisher das Überwinden der Krise im Vordergrund gestanden habe - weniger eine dauerhafte Lösungsstrategie. Im Programm für die Europawahl am 25. Mai betont die SPD, sie wolle „ein Europa der Bürgerinnen und Bürger, nicht der Banken und Spekulanten“.

Aber auch zu rot-grünen Zeiten wurde oft mehr dereguliert als reguliert und Schuldengrenzen für Euro-Staaten aufgeweicht. Die seit Jahren von der SPD geforderte Finanztransaktionssteuer gibt es bis heute nicht. Auch die SPD hat bisher noch keine echte Antwort auf die Frage gefunden, wie der Teufelskreis durchbrochen werden soll, dass Banken Staaten mit in den Strudel hinabziehen können. Die EU-Staaten ziehen hier meist nicht an einem Strang.

Zehn Vorstandsmitglieder fordern Annäherung an Linkspartei

Neben der Europawahl geht es bei der zweitägigen Klausur um das Planen der neuen Zeit als Regierungspartei. Die Lage ist ambivalent. Einerseits ein solider Start in der großen Koalition. Die SPD will mit Glaubwürdigkeit punkten, der Umsetzung dessen, was versprochen worden ist. Insgeheim hoffen einige, dass doch noch Steuern erhöht werden müsste - wenn die Union eines ihrer zentralen Wahlversprechen kassieren müsste, wäre sie blamiert.

Auf der anderen Seite steht unter anderem die strukturelle Schwäche in Ost- und Süddeutschland. Gerade bei jungen Wähler gibt es Defizite. Hier soll eine neue Internet-Agenda helfen, mit mehr Mitmach-Optionen - bis 2015 soll ein Konzept für digitale Mitgliederentscheide vorliegen. Einige halten das für zweitrangig - sie fordern, jetzt schon das Jahr 2017 in den Blick zu nehmen.

Zehn Vorstandsmitglieder fordern in einem Antrag eine rasche Annäherung an die Linkspartei. „Wenn wir für ein progressiv-linkes Reformbündnis mit einer Machtperspektive 2017 kämpfen wollen, braucht es dafür mehr als einen Parteitagsbeschluss“, wird betont. „Bestehende inhaltliche und strategische Differenzen zwischen allen Parteien links der Union können nur in einem offenen und konstruktiven Diskussionsprozess beseitigt werden.“

Bisher ist unklar, wie dies gelingen soll. Wäre die SPD etwa als Annäherungssignal bereit, nach der Thüringen-Wahl im September mit Bodo Ramelow den ersten linken Ministerpräsidenten zu wählen?