Generalsekretärin des 35. Evangelischen Kirchentages: die Berliner Theologin Ellen Ueberschär Foto: dpa

Kirchentags-Generalsekretärin Ellen Ueberschär über das Protestanten-Treffen, den Dialog mit Pietisten und ausgeschlossene Gruppen.

Stuttgart - – Frau Ueberschär, Kirchentag und Christustag, liberale und konservative Protestanten feiern gemeinsam ihren Glauben. Wächst zusammen, was zusammen gehört?
In gewisser Weise schon. Der Kirchentag und der Christustag finden nicht zusammen statt, aber parallel. Wir sind dankbar, dass die Veranstalter des Christustages gesagt haben: Wenn der Kirchentag kommt, machen wir den Termin frei. Ich erhoffe mir einen regen Austausch von Teilnehmern, die normalerweise nur zu einer der beiden Veranstaltungen gehen. Es gibt viele Brückenveranstaltungen wie „Evangelisch (nicht nur) in Württemberg“, die für auch für solche Teilnehmer interessant sein könnten, die lebendigen und geisterfüllten Glauben wie beim Christustag erwarten.
Organisatorisch sind beide Treffen aber getrennt?
Organisatorisch, von der Werbung und vom Inhalt her – ja. Der Christustag findet in eigener Regie am 4. Juni in der Porsche-Arena statt. Danach wird die Halle vom Kirchentag weiter genutzt. Es ist ein deutliches Signal, dass beides parallel stattfindet.
Bedeutet dies das Ende der Konfrontation zwischen konservativen Bibeltreuen und liberalen Protestanten?
Ich konnte dieser Konfrontation, die seit dem Kirchentag 1969 in Stuttgart heraufbeschworen wurde, noch nie etwas abgewinnen. Wie in der Politik auch, gibt es in der Kirche umstrittene Themen. Das sind theologische, aber auch ganz viele sozialethische Themen. Der Streit um diese Themen ist gut und richtig. Wir müssen uns als Kirche weiterentwickeln und fragen, was bedeutet das Evangelium in der heutigen Zeit. Da gibt es Diskussionen, Gespräche und Streit – und die werden auf dem Kirchentag geführt.
Vom „Streit um Jesus“, der 1969 Tausende Gläubige auf dem Stuttgarter Kirchentag umtrieb, ist heute nicht mehr viel zu spüren. Bedauern Sie das?
Die Gräben sind nicht so mehr so tief wie sie damals waren. Wir haben eine völlig veränderte Lage. Wir sind nicht mehr in der Situation, wo wir uns Abgrenzungen leisten können. Die Themen haben sich verschoben. 1969 und in den 1970ern wurden stärker theologische Fragen diskutiert, während es heute vor allem ethische Themenstellungen sind.
1969 haben bis zu 8000 Teilnehmer die Streitgespräche zwischen den Theologen unterschiedlicher Fraktionen verfolgt.
Das war damals auch die Zeit. Die Zeit der Studentenunruhen, die auch in den Kirchen große Fragen aufwarfen.
Ist der Protestantismus, sind die Kirchentage unpolitisch geworden?
Wir haben im Gegenteil eine Politisierung von Feldern, die früher nicht als Politik galten – wie zum Beispiel Familie. Es gibt keine Entpolitisierung. Das bezieht sich immer nur auf die Frage von Außenpolitik und Friedenssicherung und eine bestimmte Konstellation im Kalten Krieg in den 1970ern und 1980ern Jahren. Das ist zwar immer der Maßstab, aber entspricht einem ganz engen Politikverständnis.
Worin besteht die Einheit in der Vielfalt im Protestantismus?
Zuallererst im Glauben an Jesus Christus. Natürlich auch in der Art, den Glauben in der Gemeinschaft ernst zu nehmen und Gottesdienste zu feiern. Taufe und Abendmahl halten die christlichen Gemeinden zusammen. Egal, welcher Frömmigkeitscouleur sie angehören.
Sie stammen aus der Berlin. Was ist aus der Sicht einer Berliner Theologin das Besondere am württembergischen Protestantismus?
Die kirchlichen Landschaften sind überall speziell, was auch mit der historischen Zersplitterung Deutschland zusammenhängt. Bei jeder Landeskirche kann man sagen, dass sie etwas Besonderes ist. Die pietistischen Ausprägungen sind in diesem Ausmaß typisch württembergisch.
Der Ausschluss der messianischen Juden hat für Kritik vor allem in konservativen Kirchenkreisen gesorgt. Warum darf diese Gruppe nicht beim Markt der Möglichkeiten dabei sein?
Es gibt keinen Ausschluss. Alle sind herzlich eingeladen, egal ob sie sich als messianische Juden oder als messianische Gemeinde verstehen. Die einzige Regel, die wir haben, ist, dass auf dem Kirchentag keine aktive Judenmission betrieben werden soll. Wenn man in die Statuten der messianischen Gemeinden schaut, dann steht da überall drin, dass sie die Juden zum Messias bekehren wollen. Das ist ein klassischer Ausdruck für Judenmission und der Grund, warum wir das auf dem Kirchentag nicht wollen. Seit dem Kirchentag in Stuttgart 1999 haben wir den Grundsatz: keine aktive Judenmission auf dem Markt der Möglichkeiten.
Aber die Diskussion ist eröffnet.
Deshalb gibt es auf dem Kirchentag auch ein Podium mit einem wichtigen Vertreter des messianischen Judentums gemeinsam mit einer jüdischen und christlichen Stimme. Es gibt in dem ganzen Feld viele offene Fragen. Aber es ist unangemessen, dass dies zu einer Art Kampfthema geworden ist. Einige evangelikale Gruppen haben sich die Verteidigung der Judenbekehrung mit Hilfe messianischer Gemeinden aufs Schild geschrieben. Das ist nicht angemessen angesichts der ansonsten großen Missionsaufgaben in diesem Land.
Von welchen Gruppen sprechen Sie?
Das sind mehrere Gruppen, die sich dieses Thema gewählt haben. Dem Kirchentag geht es um den jüdisch-christlichen Dialog auf Augenhöhe, um ein Gesprächsklima der gegenseitigen Achtung und um Verhältnismäßigkeit.
Bedauern Sie, dass auf Kirchentagen der theologische Tiefgang verloren gegangen ist?
Ja, das bedauere ich. Um den erwähnten Streit um Jesus ist es sehr ruhig geworden, obwohl die Themen nicht erledigt sind. Die Verlagerung des medialen Interesses auf sozialethische Fragen kann dazu führen, dass Menschen beschädigt werden. Nehmen Sie das Thema Homosexuelle: Da geht es ganz schnell um die Verletzung der Würde, wenn Homosexuellen überhaupt das Menschenrecht abgesprochen wird und gefordert wird, sie zu heilen.
Einige Gruppen wie die Bruderschaft des Weges sind vom Kirchentag ausgeladen worden. Dabei handelt es sich um Homosexuelle, die andere Homosexuelle davon überzeugen wollen, ihre Neigung nicht auszuleben. Wie stehen Sie dazu?
Dieser Gruppe haben wir abgesagt. Das scheint uns eine Variante der Organisation Wüstenstrom, denen es um die Heilung der Homosexualität geht. Da Homosexualität aber keiner Heilung zugänglich ist, betrifft das auch den Versuch einer Selbstheilung. Wir gedenken am 3. Juni der ermordeten und verfolgten Homosexuellen während des NS-Regimes und der Verfolgung, die weit in die 1960er Jahre hineinreichte und wir haben im Zentrum Regenbogen viele informative Veranstaltungen zum Thema. Dazu sind alle herzlich eingeladen.
Die Protestanten könnten stolz auf ihre Vielfalt sein. Warum ist ausgerechnet dies ein Streitpunkt?
Es gibt immer wieder Leute, die finden, dass die Evangelische Kirche mehr als Einheit auftreten soll. Die Vielfalt und das plurale Glaubensleben sind eine Stärke des Protestantismus. Allerdings nur solange man sich nicht gegenseitig die Existenzberechtigung abspricht.
Wer tut so etwas?
Es gibt ein großes Dach, unter dem sich viele wiederfinden. Und dann gibt es Ränder, die das nach wie vor tun.
Haben sich die großen Lager aufeinander zubewegt?
Ich denke ja. Das hat schon 1999 angefangen. Unser Bezugspunkt für heute ist der 1999er Kirchentag und weniger der von 1969. In den 1950er und 1960er Jahren hatte der Kirchentag eine stark volksmissionarische Ausrichtung. Er war viel näher am Pietismus als heute. Seit 1969 haben sich die Geister geschieden. Der Kirchentag in seiner alten Form hat Ende der 1960er Jahre das Feld geräumt und einem neuen Modell der Partizipation Platz gemacht. Er hat sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen und die Zeichen der Zeit erkannt. Wir brauchen einen Protestantismus, bei dem Partizipation angesagt ist. Das passt gut zu unserem evangelischen Kirchenverständnis.
Zur Person: Ellen Ueberschär
1967 in Ostberlin geborenNachdem ihr die Aufnahme eines Medizinstudiums staatlicherseits verweigert wurde Ausbildung als Facharbeiterin für Datenverarbeitung 1988-1995 Studium der evangelischen Theologie in Berlin und Heidelberg 2002 Promotion an der Universität Marburg 2004-2006 Studienleiterin für Theologie, Ethik und Recht in der Ev. Akademie LoccumSeit 2006 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Fulda