1999: Ein Salzberg auf dem Kleinen Schlossplatz soll das Kirchentagsmotto anschaulich machen Foto: Uli Kraufmann

Der Deutsche Evangelische Kirchentag kommt zum vierten Mal nach Stuttgart. Seit seinen Anfängen 1949 hat sich das Protestantentreffen deutlich verändert – es  ist bunter und jünger geworden.

Stuttgart - An seinen ersten Kirchentag 1969 in Stuttgart erinnert sich Jürgen Wandel gut. Sein Religionslehrer hatte den 17-Jährigen, der sich für Politik und Kirche interessierte, auf die Veranstaltung in Stuttgart aufmerksam gemacht. Dem Schüler aus Tuttlingen gefielen die vier Tage in der „Großstadt“, die tägliche Fahrt mit der Straßenbahn auf den Killesberg. „Ich genoss es, unter vielen Mitchristen zu sein, dass Posaunenchöre und Kirchenfahnen die Stadt prägten und alles lockerer zuging, als in meiner Heimatgemeinde“, erzählt der Pfarrer. Erstmals besuchte er auch einen anglikanischen Abendmahlsgottesdienst. Obwohl er sich schon damals politisch engagierte, ließ er die Veranstaltungen zu politischen Themen links liegen. Ihn interessierte vor allem der „Streit um Jesus“, den Theologieprofessoren unterschiedlicher Richtungen in einer der sieben Hauptveranstaltungen führten. Der erste Vorgeschmack auf das spätere Theologiestudium.

Damaligen Teilnehmern blieb das Stuttgarter Protestantentreffen allerdings nicht nur wegen heftiger Auseinandersetzungen zwischen Pietismus und moderner Theologie in Erinnerung – etwa darüber, ob die Bibel wortwörtlich zu nehmen sei oder ob ihre Entstehungsgeschichte mitbedacht werden müsse. Es zog auch viele jungen Menschen an, die im Zuge der Studentenbewegung politisiert worden waren und eine bessere Welt schaffen wollten. Plakate mit dem Kirchentagsmotto „Hunger nach Gerechtigkeit“ ergänzten sie mit ihrem eigenen: „Durst nach Revolution“. In den Diskussionen in den offiziellen Arbeitsgruppen – Gottesfrage, Streit um Jesus, Kirche, Der Einzelne und die Anderen, Demokratie, Gerechtigkeit in einer revolutionären Welt, Tribunal zur Ermittlung des Glücks sowie Christen und Juden – ging es oft hoch her, Resolutionen wurden verfasst und verworfen. Bei der Hauptkundgebung im Neckarpark stürmten Jugendliche die Haupttribüne. Ist die Kirche dabei, die Jugend zu verlieren, fragten sich viele.

Zwischen all diesen Aktionen ging eine andere Art von Protest beinahe unter – ein öffentlicher Selbstmord. Er habe in der Kirche vergeblich „Kameradschaft“ gesucht, rief ein 56-Jähriger vor etwa 2000 Menschen ins Mikrofon und endete mit den Worten: „Ich grüße meine Kameraden von der SS“. Zurück an seinem Platz nahm er einen Schluck aus der Flasche in seiner Hand. Erst später erfuhren die Teilnehmer, dass der Mann nicht wegen der hohen Temperaturen in der Halle zusammengebrochen war, sondern weil er Zyankali zu sich genommen hatte.

Der hochemotionale Kirchentag 1969 war der zweite in der Landeshauptstadt. Schon 1952 waren rund 40 000 Dauerteilnehmer zu dem Protestantentreffen in Stuttgart gekommen, das unter dem Motto „Wählt das Leben“ stand. „Unser Kirchentag soll nicht nur der inneren Erbauung dienen“, verkündete der damalige Kirchentagspräsident Reinold von Thadden bei der Eröffnung vor den Ruinen des Neuen Schlosses. „Die Kirche kann ihren rettenden und heilenden Dienst nur tun und in den Auseinandersetzungen bestehen, wenn hinter ihren Bischöfen, ihren Pfarrern und Synoden die glaubende Christenheit selber sichtbar in Erscheinung tritt.“

Drei Jahre zuvor hatte von Thadden den ersten Deutschen Evangelischen Kirchentag ins Leben gerufen. Der Nazigegner, der zur Bekennenden Kirche gehörte und sich im Christlichen Studenten-Weltbund engagierte, wollte alles tun, um sicherzustellen, dass sich Christen nicht noch einmal von totalitären Mächten verführen ließen wie ein Teil der evangelischen Kirche von den Nazis. Der Kirchentag als protestantische Bürgerbewegung und Forum der Laien sollte ein Ort sein, um sich regelmäßig mit Kirche, Politik und Gesellschaft auseinanderzusetzen. Zunächst fanden die Christentreffen jährlich, ab 1957 alle zwei Jahre statt.

Bis zum dritten Kirchentag in Stuttgart sollte es aber dauern. Erst 1999, 30 Jahre nach dem zweiten, war die Evangelische Landeskirche in Württemberg wieder Gastgeber – eine Folge von 1969. Die pietistischen und evangelikalen Gruppen, die in Württemberg besonders stark sind, waren nach den heftigen Auseinandersetzungen eigene Wege gegangen und hatten den „Gemeindetag unter dem Wort“, eine Art Antikirchentag, ins Leben gerufen. Die Landeskirche wollte den Konflikt nicht weiter schüren.

Ein Jahr vor der Jahrtausendwende sollte ein Salzberg auf dem Kleinen Schlossplatz das Motto „Ihr seid das Salz der Erde“ deutlich machen – und die Verantwortung der Christen für die Welt. Kritiker bemängelten, der Kirchentag habe an Profil verloren und sei zu einer Veranstaltung geworden, bei der es vor allem um Friede, Freude, Eierkuchen gehe. Der damalige Landesbischof Eber- hardt Renz sieht das anders. „Der Kirchentag 1999 hat der Landeskirche sehr gut getan“, sagt er. Er habe zum einen die Gemeinden gestärkt, die sich als Gastgeber für die vielen Gäste aus dem In- und Ausland öffneten. Und er vielen den Blick über den Tellerrand eröffnet. „Kirche darf sich nicht nur um sich selbst drehen, sondern muss sich auch als Teil eines größeren Ganzen begreifen.“