Pfarrer Ralf Vogel stellt sein Konzept Nachtschicht-Gottesdienst beim Kirchentag vor. Foto: Lg/Kovalenko

Pfarrer Ralf Vogel hat sein Konzept Nachtschicht-Gottesdienst beim Kirchentag vorgestellt. Auch andere Pfarrer aus Stuttgart haben Berlin besucht.

Berlin/Stuttgart - Ein Wuppertaler Pfarrer darf so frech fragen: „Wann ist Kirche eigentlich Scheiße geworden? Wann ist die Sache gekippt?“ Holger Pykas’ Provokationen zu Beginn eines Predigt-Slams bringt die 500 Zuhörer in der Berliner Gethsemane-Kirche erst zum Lachen, dann zum Nachdenken. Denn irgendwann ist aus Volkskirche etwas Verzichtbares geworden. Viele haben ihr den Rücken gekehrt.

Der Kern dieser Entwicklung beschäftigt Kirchen land auf land ab. Nur wenige finden in ihren Studien Antworten und zeitgemäße Angebote, die Kirchen füllen. Aber es gibt sie: Kirchen mit Formaten, die den Stadtmensch ansprechen. Einige sind auf dem Kirchentag präsent. Auch deshalb hat sich die Stuttgarter Prälatin Gabriele Arnold in den ICE gesetzt, um in die Hauptstadt zum evangelischen Kirchentag zu reisen – mit drei Fragen im Gepäck: „Wie lebt Kirche in der Großstadt? Was kommt nach der Volkskirche? Wie gelingt der Aufbruch zu neuen Gemeinde- und Gottesdienstformen?“

Eigentlich hätte sie auch die S-Bahn nach Obertürkheim nehmen können, statt in die Mercedes-Welt am Berliner Salzufer zu fahren. Dort ist Pfarrer Ralf Vogel zu einem echten Drei-Schichtler geworden. An drei Tagen präsentiert der Stuttgarter dort seinen Nacht-Schicht-Gottesdienst – einen Exportschlager. Denn Vogel ist auf den Kirchentagen ein gefragter Mann. Sein Konzept macht die deutschen Protestanten neugierig. Im eigenen Land ist dieser Prophet des Aufbruchs weniger gefragt. Er müsse täglich um finanzielle Mittel betteln. Von der Amts-Kirche bekomme er nichts.

Orientierung in einer komplexen Welt

In Berlin versteht das keiner. Seine Idee, „mit Kirche an Orte zu gehen, wo keiner Kirche erwartet“, kommt dort an. Mehr noch: Tanja Dückers, Berliner Publizistin, plädiert sogar für eine „innige Wende im Glauben“. Ihr hat „das Bürokratische und Vorgefertigte des Gottesdienstes, das gewissermaßen Un-Intime einer privaten Angelegenheit wie dem Glauben stets Distanz vermittelt.“

Diese Distanz versucht Pfarrer Vogel zu durchbrechen: „Indem wir in den Nachtschicht-Gottesdiensten erlebbare Möglichkeiten schaffen.“ Dazu holt er sich bekannte Persönlichkeiten, „die etwas zu erzählen haben“ und beherzigt die Prinzipien der Einfachheit: einfache Sprache, einfache Mitwirkung, einfaches Verstehen. „Die Leute müssen das Gefühl bekommen, dass auch ihre Sicht der Dinge gefragt ist. Das schafft Identifikation.“ Die Vielfalt seiner Promis würde im besten Falle „Orientierung“ in einer komplexen Welt bieten, so Vogel.

Begeister vom Predigt-Slam

Beim Predigt-Slam in der Gethsemane-Kirche ist auch das wichtig. Aber nicht das Wichtigste. Kirche darf hier auch Spaß machen. Nach dem Vorbild des Poetry Slams, einem Dichterwettstreit, kämpfen Pfarrer mit poetischen Kurzpredigten um die Gunst der Zuhörer. Publizistin Tanja Dückers empfindet das als wohltuend: Kunst werde so zur Ersatzreligion, befreie sie vom Herdentrieb und fordere keine Treue. Für Dückers ist es eine „innige Welt im Glauben“.

Die ehemalige Zuffenhausener Pfarrerin Birgit Mattausch bringt es in ihrer Poetry-Predigt auf den Punkt. Im Wettstreit mit den anderen unterliegt sie zwar, aber ihr Vortrag trifft ins Herz. Sie hat Menschen erreicht und bewegt. „Kirche von morgen braucht solche Formate“, sagt Mattausch, „wir haben ja eine wunderbare Botschaft, aber wir predigen anders als vor 20 Jahren und bekommen so eine direkte Reaktion.“

Der Stuttgarter Pfarrer-Ausbilder Christof Weiß-Schautt ist nach dem Predigt-Slam begeistert. Es scheint, als habe sich die Zugfahrt nach Berlin für ganz viele Schwaben gelohnt. Und vielleicht fragt sich auch der Wuppertaler Pfarrer Pyka bald: „Wann ist Kirche eigentlich wieder cool geworden?“