Jörg-Hannes Hahn Foto: Bulgrin

Erstmals finden im wohl aufwendigsten Konzert des Kirchentags am 4. Juni die Gächinger Kantorei, Hymnus-, Bach- und Philharmonia Chor Stuttgart zusammen. Zu hören sind neue Werke von Jörg Herchet, Moritz Eggert, Günter Berger und Martin Smolka.

Stuttgart - Herr Hahn, im Zentrum des großen Konzertes am 4. Juni im Beethovensaal, das auf Ihre Initiative hin zustande kam, steht ein neues Werk des tschechischen Komponisten Martin Smolka. „Sacred Vessel“, „Heiliger Kessel“, heißt das Stück, an dem unter anderen 120 Chorsänger beteiligt sind. Beschreibt der Titel die Stadt Stuttgart in der Zeit des Kirchentags?
(Lacht) Nein. Die beiden Wörter gehören zu einem Spruch des chinesischen Dichters und Philosophen Tao Te Ching, den Smolka seiner Kantate vorangestellt hat. Vertont worden sind Teile der Psalmen 90, 93, 98 und 150 sowie einige Sätze aus dem Buch Jesaja. Den Rahmen bildet das Kirchentagsmotto aus Psalm 90: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Besser übersetzt hieße es: „Gib uns ein weises Herz.“ Oder: „Gib uns ein hörendes Herz.“ Das sagt so viel mehr.
„Sacred Vessel“ ist ein Werk in sieben Sätzen für drei Chöre und Orchester – wobei zwei der Chöre mit Laien besetzt sind und einer mit professionellen Sängern. Werden auch Solisten dabei sein?
Nein. Dafür hat Smolka aber von der Möglichkeit, die ihm der Vertrag eingeräumt hat, nämlich „einige Sonderinstrumente“ zu benutzen, ausgiebig Gebrauch gemacht: Es gibt vier Saxofone, drei E-Gitarren, vier Blockflöten und vier Schlagzeuger.
Was haben Sie beim ersten Blick in die Partitur gedacht?
Das sieht ja wahnsinnig einfach aus!
Und beim zweiten?
Was für ein tolles Stück!
Worin liegt seine Qualität?
Es ist schlichtweg richtig gut komponiert. Das geht flächig los, tonal, wird mit ganz einfachen Mitteln gestaltet. Der Klang wandert von links, also vom Philharmonia Chor, zur Gächinger Kantorei, die oben auf der Chorbühne steht, bis hin zum Bachchor, der rechts vor der Orgel positioniert ist. Der Beginn ist unbegleitet, a cappella, dann kommen hohe Streicher dazu, aber während des ganzen Stücks werden die Chöre vom Orchester kaum gestützt. Der zweite Satz wird instrumental reichhaltiger, aber noch dosiert, und dabei wird auch mal der Text eines Satzes auf die Chöre verteilt. Im dritten Satz geht es dann zur Sache, wieder wandert der Klang von links über die Mitte nach rechts, er verdichtet sich, und die dramatischen Effekte werden im Chor und im Orchester wirkungsvoll herausgearbeitet. Später reiben sich gegensätzliche Rhythmen aneinander. Dabei ist das Schlagzeug ausgesprochen vielseitig gefordert: mit verschiedenen Gongs, Tamtams, Woodblocks, Pfeifen. Ich glaube, nicht erst bei den Wanderungen der Klangflächen im letzten Satz wird das für das Publikum ein tolles Hörerlebnis. Die Leute werden von diesem Stück etwas mitnehmen, da bin ich sicher. Und für mich wird es eine Herausforderung sein, das Ganze zusammenzuhalten – und einen großen Bogen zu schaffen.
Wie sind Sie auf den Komponisten Martin Smolka gekommen?
Ich habe überlegt, dass es am Kirchentag irgendein Signal in Richtung Neue Musik geben muss, und man kann ein Kirchentagspublikum, das mit zeitgenössischen Klängen nicht so vertraut ist, ja nicht mit Helmut Lachenmann konfrontieren. Martin Smolka hat eine etwas verbindlichere Tonsprache. Hinzu kommt, dass er ein extrem genauer Arbeiter ist. Ihn ärgert es schon, wenn er es übersehen hat, dass irgendwo bei einer Achtelpause ein Punkt fehlt. Dabei ist es nicht etwa so, dass er ständig neues Material einführt, sondern er verarbeitet das Vorhandene auf eine schöne, zwingende Weise. Zwischendurch wird es ein ganz jubilierendes Stück, endet schließlich aber ganz still und leise im dreifachen Piano. Smolka schreibt für die Stimme – und dafür, dass man etwas spürt. Es ist natürlich keine Avantgarde im strengen Sinne, aber das wollten wir ja auch gar nicht haben. Wir wollten einem offenen Publikum einen kleinen Einblick in einen neuen Kosmos geben.
Eigentlich sollte das Programm des Konzertes ein bisschen anders sein.
Ja, die Planung war ursprünglich so, dass nur wir und die Bachakademie das Konzert veranstalten sollten, und im Programm hätte dann neben „Sacred Vessel“ der dritte Teil von Jörg Herchets Zyklus „Das geistliche Jahr“ gestanden. Nun wird es nur die Kantate „Die Geburt im Herzen“ aus diesem Stück sein, und der Hymnus-Chor steuert einen Teil der neuen Messe von Moritz Eggert und die „El Roi-Impressionen“ von Günter Berger bei.
Wie lang ist Smolkas Kantate?
In der Partitur steht: 40 Minuten. Ich dirigiere aber nicht alles so schnell, wie er will, und durch den großen Apparat werden sich zwangsläufig immer wieder kleinere Verzögerungen ergeben.
Martin Smolka war gerade zu Gast im Komponistenporträt Ihrer Konzertreihe „Musik am 13.“. Wie haben Sie ihn dort erlebt?
Als sehr einnehmenden Menschen. Allerdings war er nur auf der einen Seite extrem verbindlich. Sobald etwas nicht optimal läuft, kann er schon sehr hart sein. Er weiß genau, was er will. Aber das ist eigentlich sehr angenehm.
Wie läuft die Vorbereitung?
Dezentral. Die einzelnen Chöre studieren ihren Part ein, und ich setze das dann in den letzten Proben zusammen. Die Gächinger singen das natürlich vom Blatt, denn es ist nicht wirklich schwer. Nur einige Stellen sind schnell, das muss dann rhythmisch präzise zusammenkommen. Der Bachchor und der Philharmonia Chor, den jetzt Christoph Heil einstudiert hat, hatten beide an Ostern große Konzerte, konnten also erst hinterher mit den Proben beginnen. Das Orchester, die Württembergische Philharmonie Reutlingen, hat nicht gar so viel zu tun, sorgt aber für ein klangfarblich sehr breites Spektrum. Und die Soprane des Bachchors dürfen einmal sogar ein hohes G singen.
Können sie das auch?
(Lacht) Das hoffen wir mal.
Gab es das eigentlich schon einmal: dass so viele von den großen Stuttgarter Ensembles, die sich mit geistlicher Musik beschäftigen, ein gemeinsames Konzert geben?
Nein. Aber dieses Projekt war natürlich genau aus diesem Grund für mich sehr reizvoll.
Wird diese Kooperationsidee eine Fortsetzung finden?
Das wird sich zeigen. Beim Philharmonia Chor hat das Projekt auf jeden Fall etwas angestoßen, und dieser Chor ist ja stimmlich noch ein Stück weit besser aufgestellt als mein Bachchor, in dem viele Sänger schon ewig singen. Die werfe ich nicht einfach hinaus, wenn ihre Stimmen älter werden. Da kehre ich nicht mit dem eisernen Besen durch, das ist nicht meine Art, und ich fange auch nicht damit an, Sänger zu bezahlen. Ich wollte aber mit diesem Konzert nicht nur die Blaupause für gemeinsames Musizieren schaffen, sondern auch einfach Neue Musik an einem wichtigen Ort mit guten Ensembles und einem prominenten Zugpferd machen. Dabei war es nicht wenig Arbeit, dieses Konzert ohne den Erlös aus Eintrittskarten zu finanzieren. Man braucht jetzt für den Besuch nur einen Kirchentagsausweis, und im Beethovensaal gibt es freie Platzwahl.
Glauben Sie, dass der Saal voll wird?
Na, wenn dieses Programm die Plätze nicht füllt, dann weiß ich auch nicht . . . Bei Kirchentagen überwiegt ja oft diese Seifen-und-Soßen-Musik. In Stuttgart haben die Kulturschaffenden aber einigen Hirnschmalz investiert, um sich attraktiv zu präsentieren. So gibt es im Klassik-Bereich unter anderem die Reihe „Nach(t)klang“ und etliche Veranstaltungen in der Musikhochschule. Beim letzten Kirchentag in Hamburg gab es nur ein spärliches Kulturprogramm. In Stuttgart haben wir jetzt aber einiges darangesetzt, um ein Signal zu setzen und Kultur aus Stuttgart nach außen zu tragen.
Und dieses Signal würde dann lauten: „Der heilige Kessel singt und klingt“?
(Lacht) Zum Beispiel.