Für Katholiken stellen Wunder Zeichen für das Handeln Gottes in der Welt dar. Foto: dpa

Sie durchbrechen Naturgesetze und stellen die Wissenschaft vor unlösbare Rätsel. Für Skeptiker sind Wunder lediglich Ausnahmen von der Norm. Doch für Katholiken stellen sie Zeichen für das Handeln Gottes in der Welt dar.

Sie durchbrechen Naturgesetze und stellen die Wissenschaft vor unlösbare Rätsel. Für Skeptiker sind Wunder lediglich Ausnahmen von der Norm. Doch für Katholiken stellen sie Zeichen für das Handeln Gottes in der Welt dar.

Rom - „Wunder gibt es immer wieder“, sang Katja Ebstein im Jahr 1970 beim Eurovision Song Contest. Die Schlagersängerin dachte dabei wohl eher an die wundersame Rettung von verschütteten Bergleuten, an eine große Liebe, die über alle Widerstände obsiegt, oder an unheilbar Kranke, die plötzlich genesen. Für gläubige Christen dagegen sind Wunder weit mehr als unerklärliche profane Geschehnisse: Es sind Zeichen Gottes, der unerwartet in die Geschichte eingreift.

Wunder sind nicht alltäglich. Das Außergewöhnliche, Mirakulöse, Heilige ist ihr Kennzeichen. Sie durchbrechen das Normale und Gewohnte, das Erstarrte und Erwartete. Beim Stichwort Weihnachten mögen viele an ein Schnäppchen für den Gabentisch oder eine überraschende Gehaltserhöhung denken. Doch für die Kirche ist die Heilige Nacht das Hochfest der Geburt Jesu – des Wunders aller Wunder. Sie verkündet das neugeborene Kind als Salvator Mundi (Retter der Welt) und Messias (Gesalbten Gottes). Alles, was von ihr als Wunder deklariert wird – biblische Wunder genauso wie die der Heiligen – , hat hier seinen Ursprung.

Die biblischen Wundererzählungen berichten von außergewöhnlichen Erfahrungen, die Menschen machen und denen eines gemeinsam ist: Man muss an sie glauben und in ihnen Zeichen für Gottes Wirken sehen. Erst dann enthüllen sie ihren tieferen Sinn. Das Neue Testament ist voll von Wundertaten, die Jesus vollbringt: Tote werden auferweckt, Aussätzige geheilt, nd Besessene vom Satan befreit. Blinde können wieder sehen, Lahme gehen, Taube hören, Stumme wieder sprechen. Jesus geht über das Wasser und stillt einen Seesturm, wandelt Wasser zu Wein und vermehrt Brote und Fische.

Kirche hält am Wunderglaube fest

Was sind die biblischen Wunder – historische Fakten oder religiöse Symbole, Tatsachenberichte oder mythische Erzählungen? Bis weit ins 20. Jahrhundert hielten die Kirchen daran fest, dass die Wunder Jesu und der Heiligen in realiter geschehen sind. Heute ist man davon nicht mehr so felsenfest überzeugt. Der Name Rudolf Bultmann (1884–1976) steht für die Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Dieser bedeutende protestantische Theologe wollte den wahren Kern des christlichen Wunderglaubens herausschälen und die biblischen Wunderberichte als Legenden entlarven. Bultmann zufolge wurde das Neue Testament aus einem mythologischen Weltbild heraus geschrieben, das inzwischen von einer wissenschaftlichen Herangehensweise abgelöst worden sei. Um eine überholte Gedankenwelt nicht zur Voraussetzung des Glaubens werden zu lassen, sei es Aufgabe der Theologie, den vom Weltbild unabhängigen Kern der Verkündigung herauszuarbeiten. „Man kann nicht elektrisches Licht benutzen, moderne medizinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben“, schrieb er 1941 im Aufsatz „Neues Testament und Mythologie“.

Selbst die so wundergläubige Katholische Kirche hat ihren Wunder-Kanon mächtig entschlackt. So werden sie im „Katechismus der Katholischen Kirche“ (2005) nur noch im Zusammenhang mit den Wundern Jesu erwähnt. „Wäre Jesus nicht auferstanden, wäre unser Glaube null und nichtig!“ , heißt es im Ersten Brief an die Korinther (15,14).

Doch ungeachtet der Religionskritik und Säkularisierung des Glaubens hält die Kirche am Wunderglaube fest. Wunder sind Voraussetzung für jede Selig- und Heiligsprechung, der ein strenges und langwieriges Prüfungsverfahren vorausgeht. Es handelt sich dabei um feste Regeln für das Unerklärliche und Transzendente, das die sinnliche Erfahrung übersteigt. Ein rund 70-köpfiges Gremium der vatikanischen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse – Theologen, Juristen und Mediziner – durchstöbert Krankenakten und klinische Berichte, begutachtet Röntgenbilder, liest Zeugenaussagen und wälzt ganze Bibliotheken an Büchern und Unterlagen. Mit einer wissenschaftlichen Exaktheit und Akribie, dass man meinen könnte, es gehe um die Lösung eines Kriminalfalls.

Regulär dauern Seligsprechungen – die die Vorstufe zur Heiligsprechung sind – Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Die vatikanischen Expertisen gehören zu einem komplizierten Verfahren, das wissenschaftlich hieb- und stichfest nachweisen soll, was an einem Wunder so unerklärlich sein soll. 2004 wurde das „Martyrologium Romanum“ aktualisiert, das alle 6650 Heilige und Selige sowie 7400 Märtyrer auflistet.

Das Heiligenwesen in seiner heutigen Form wurde 1588 von Sixtus V. geregelt. Im frühen Mittelalter hatte noch das Kirchenvolk für sich entschieden, wen es für heilig hielt. Ab dem hohen Mittelalter trat anstelle dessen ein kirchenrechtlich genau festgelegter Prozess. Darin werden vom sogenannten Verteidiger Gottes (Advocatus Dei) Argumente für die Heiligsprechung vorgebracht, während seine Konterpart, der Anwalt des Teufels (Advocatus Diaboli), dagegen argumentiert.

Papst Johannes Paul II. (1920–2005) hält den Rekord: Während seines Pontifikats (1978–2005) sprach er 1316 Personen selig und 483 heilig. Auch der derzeitige Pontifex Franziskus ist wundergläubig: Am 12. Mai sprach er zwei lateinamerikanische Ordensfrauen heilig sowie 813 Italiener – die Märtyrer von Otranto, die sich 1480 geweigert hatten, dem Glauben abzuschwören.

Wer nach seinem Ableben in den exklusiven Club aufgenommen werden will, muss mindestens ein Wunder bewirkt haben. Bis 1983 waren für Seligsprechungen bis zu vier und für Heiligsprechungen drei weitere Wunder erforderlich. Johannes Paul II. ließ die Zahl auf je eine wundersame Tat reduzieren. Der Weg zur Seligsprechung ist in der Regel mühsam. Gerade deswegen haben Schnellverfahren wie die von Mutter Teresa (1910–1997) und Johannes Paul II. für Aufsehen gesorgt. Die mildtätige Nonne wurde bereits 2003 seliggesprochen, sechs Jahre nach ihrem Tod. Es war das bis dahin kürzeste Seligsprechungsverfahren der Neuzeit.

Bei Johannes Paul II. ging es noch ein paar Tage schneller. Seine beiden Nachfolger haben nach seinem Tod am 2. April 2005 die „Santo subito“(sofort heilig)-Rufe der Gläubigen auf dem Petersplatz am 1. Mai 2011 erhört: Benedikt XVI. sprach ihn selig. Am 30. September 2013 teilte Franziskus mit, dass Johannes Paul II. und Johannes XXIII. (1881–1963) am 27. April 2014 heiliggesprochen werden sollen. Beim Konzilpapst Johannes hat Franziskus auf ein Wunder verzichtet. „Wir kennen alle die Tugend und die Persönlichkeit von Johannes XXIII.“, erklärte Vatikan-Sprecher Federico Lombardi zu diesem „besonderen Fall“.

Wie wird man in der Kirche zum Seligen oder Heiligen? Voraussetzung ist, dass man im Kirchenvolk verehrt wird und die Person überdurchschnittlich tugendhaft gelebt hat. Sollte der Betreffende als Märtyrer gestorben sein, reicht das „Blutopfer“ aus.

Die Vatikan-Kommission muss danach mindestens ein Wunder ausfindig machen. Mutter Teresa wird die plötzliche Genesung einer an Krebs erkrankten Frau zugeschrieben. Am 1. Mai 2011 – dem Tag seiner Seligsprechung – soll Johannes Paul II. eine Frau aus Costa Rica von ihrer Gehirnverletzung geheilt haben, als sie den Verstorbenen um Hilfe anflehte. Die Heilung einer an Parkinson erkrankten Nonne war als Wunder für seine Seligsprechung anerkannt worden.

Die Medizin kennt durchaus solche Spontanheilungen, für die aber mehr die Arzneidosis und Selbstheilungskräfte des Menschen verantwortlich gemacht werden als Übernatürliches. Doch was wäre die Katholische Kirche ohne Wunderglauben. Auch die Entzauberung der Welt durch die moderne Wissenschaft hat das Paranormale nicht aus den Köpfen und Herzen der Gläubigen vertrieben. Wunder bewegen sich auf einer anderen Ebene als Chemie, Biologie und Physik. Sie durchbrechen die Naturgesetze und sind unerklärlich – trotz vermeintlich wissenschaftlicher Prüfungen durch den Vatikan.

Letztlich erschließen sich Wunder nur dem, der auch bereit ist, eine übernatürliche Ursache zu akzeptieren. „Für Gott ist nichts unmöglich“, heißt es im Lukas-Evangelium (1, 37). Erst der Glaube macht das Unerklärliche zum Wunder, das nicht wissenschaftlicher Beweis ist, sondern göttliche Poesie.