Jetzt, da die Werkstruppe der Heroin-Erfinderfirma Bayer Leverkusen bei 15 Grad unter null "Herbstmeister" geworden ist, stelle ich mich meiner Krankheit.

Stuttgart - Jetzt, da die Werkstruppe der Heroin-Erfinderfirma Bayer Leverkusen bei 15 Grad unter null "Herbstmeister" geworden ist, stelle ich mich meiner Krankheit. Es wird Weihnachten, und ich offenbare mich in der Hoffnung, mit meinem Leiden nicht allein zu sein. An Rettung glaube ich nicht.Auslöser für mein Bekenntnis ist eine E-Mail mit Fußballbotschaften meines Freundes Klaus Bittermann; er lebt, als Kleinverleger und Autor sozialisiert, in Berlin-Kreuzberg. In Wahrheit ist er gebürtiger Franke mit rollendem R und unheilbar infizierter Fan von Borussia Dortmund.

Seine Veranlagung zwingt ihn, oft in den Pott zu fahren. Hat er keine Zeit, geht er in Kreuzberg in die Milchbar. Dort übertragen kranke Aliens die Spiele der Borussia; sie wurde gerade 100 Jahre alt. B. berichtet über diese Ereignisse, und seine Zeilen findet man im Netz: "Es war blöde Gewohnheit, dass ich mich wieder in die Milchbar schleppte, um bei strahlendem Sonnenschein auf eine Leinwand zu starren, auf der die Kugel nur manchmal als weißer Punkt aufblitzte, wo man sie nicht vermutet hatte. Und auch die Spieler liefen irgendwie undeutlich durch die Gegend."

Ich lese diese Notizen voller Neid. Selbst wenn ich schreiben könnte wie B., fände ich dafür keinen Stoff. Ich habe keinen Club, für den ich mich in eine Bar schleppen könnte, wo die Kugel auf der Leinwand blitzt. Mein Club spielt in der vierten Liga. Für jeden Fernsehsender ist er weniger interessant als ein toter Hund auf der Landstraße von Sins- nach Hoffenheim.

Vergangenen Sonntag durfte mein Club nicht spielen. Er kann sich keine Rasenheizung leisten. Samstag und Sonntag saß ich auf dem Sofa und brüllte meinen Fernseher an: Für wen eigentlich, du Idiot, habe ich mich auf mein Sofa geschleppt, wenn ich nicht weiß, für welchen Club ich kämpfen oder wenigstens sterben soll?

Die Spieler liefen undeutlich durch die Gegend, und am Ende war es mir scheißegal, ob der Herbstmeister Aspirin Complex oder Osram Heynckes hieß.

Ich kann nichts für meine Lage. Ich hatte nie einen richtigen Club. Als ich zehn Jahre alt war, saß ich eines Abends mit meinem Vater vor dem Radio; Fernseher hatten wir keinen. Es war der 24. März 1965, nach zwei torlosen Partien im Europapokal-Viertelfinale der Landesmeister standen sich der 1. FC Köln und der FC Liverpool im Entscheidungsspiel in Rotterdam gegenüber. In Kölns Abwehr spielte Wolfgang Weber. Herr Weber, sagte der Reporter, habe sich in der ersten Halbzeit das Wadenbein gebrochen. Dennoch spiele er weiter. Nach einem 0:2-Rückstand erzielte Köln noch das 2:2, und so musste das Los entscheiden. Beim ersten Wurf blieb die Münze senkrecht im Boden stecken. Beim zweiten fiel sie für Liverpool. Ich konnte es nicht fassen. Wenn schon Gott nicht für den Helden Weber Partei ergreift, sagte ich mir, so bete wenigstens ich für seinen gebrochenen Haxen. Ich wurde Köln-Fan.

(Zum Glück ging diese Phase geistiger Verwirrung rasch vorüber. Ich hätte mich in einer Milchbar zu Tode getrunken.)

Mitte der Siebziger stand ich, von neuen Freunden verschleppt, an der Außenlinie der Stuttgarter Kickers. Ich fand den Platz im Wald auf Anhieb gemütlich - und blieb die folgenden 33 Jahre dort stehen.

Keiner hatte mich gewarnt, dass eines Tages mein toter Club seltener im Fernsehen auftauchen würde als jeder Schweinegrippe-Patient von Hoffenheim.

Heute sitze ich ratlos vor der Kiste, voller Sehnsucht nach der großen Liebe auf der großen Bühne. Doch das verdammte Glück ist keine Hure aus Leverkusen, und auch kein Totenkopf von St. Pauli. Mit Wehmut denke ich an meinen Freund B., an diesen treuen Hund, dem es in der Milchbar eine Hundertjährige besorgt. Zum Teufel mit Borussia.