Vom Abriss bedrohte Häuser in der Beethovenstraße Foto: jb

Unser Kolumnist Joe Bauer ist wieder in Stuttgart unterwegs gewesen. Sein Weg hat ihn in die Botnanger Beethovenstraße geführt, wo es fast eine Polizei-Übung in einem Wohnhaus gegeben hätte.

Stuttgart - Es ist nicht einfach, in diesen Novembertagen Orientierung zu finden. In manchen Momenten habe ich den Eindruck, selbst die kleine Stadt Stuttgart könnte sich in eine Pro- und eine Anti-Trump-Gesellschaft spalten. Und ich meine nicht das Stuttgart im US-Bundesstaat Arkansas, wo der Republikaner haushoch gewonnen hat. In unserem geistigen Klima, im Streit über (angeblich liberale) „Eliten“ und (anscheinend rustikale) „Vergessene“, ging bei mir beinahe die Nachricht unter, Merkel wolle womöglich über ihr Ableben hinaus als Kanzlerin kandidieren – was einleuchtet, da ihr angesichts der Scheintoten im oppositionellen Lager keine Gefahr droht.

Es riecht nach Kampf

Morgens um neun stehe ich an der U-Bahn-Haltestelle Schwab-/Bebelstraße und schaue den Männern zu, die mit Stihl-Laubbläsern die Schienen frei machen und beachtliche Haufen türmen. Der Lärm ist eine zeitgenössische Ouvertüre für meinen Trip ins hochmusikalische Botnang, wo ja etliche Straßen nach Genies wie Händel, Chopin und Beethoven benannt sind. Wenn mir solche Dinge durch den Kopf gehen, frage ich mich inzwischen, ob es noch richtig ist, die Gedanken mit dem aufgewirbelten Laub fliegen zu lassen. Oder ob die Lage bereits zu ernst ist, um müßiggängerisch der Blasmusik aus dem Hause Stihl zu lauschen. Es riecht nach Kampf.

In der Botnanger Beethovenstraße, bei der ebenfalls nach einem Komponisten benannten U-Bahn-Station Lindpainterstraße, stehen Häuser, die kommendes Jahr 90 Jahre alt werden, falls sie noch so lange stehen. Der Bau- und Wohnungsverein Stuttgart (BWV) will 48 günstige Mietwohnungen in der Beethovenstraße 62–70 abreißen und wesentlich teurere hochziehen.

Nur zwei Mieter halten noch die Stellung

Fast alle Mieter in der Beethovenstraße sind schon weg, darunter viele alte Menschen, die in ihren neuen Quartieren unglücklich sind und nicht einsehen, warum sie gehen mussten. Nur noch zwei Mieter halten unerschrocken die Stellung in der ehemaligen, vom legendären Bankier und Sozialreformer Eduard Pfeiffer erbauten Arbeitersiedlung: der promovierte Physiker Ilja Gerhardt mit seiner dreiköpfigen Familie und der Verpackungsingenieur Wolfgang Reitzig mit seiner pflegebedürftigen 91-jährigen Mutter. Gerhardt ist 2012, nach einer Gastprofessur in Vancouver/Kanada, in Nummer 62 eingezogen. Reitzig lebt seit 43 Jahren in Nummer 68. Gegen beide ist der BWV im April dieses Jahres vor Gericht unterlegen: Die im Februar 2015 ausgestellte Mietkündigung war „nicht ausreichend begründet“.

Es ist morgens um halb zehn, als ich – unangemeldet – bei Gerhardt aufkreuze. Was soll’s, sage ich mir, der Mann ist ganz andere Überfälle gewöhnt. Erst Ende vergangener Woche wäre um ein Haar ein Sondereinsatzkommando (SEK) der Stuttgarter Polizei bei ihm eingedrungen, um eine Antiterrorübung durchzuführen. Und diese Geschichte – mitten in der Wohnungsnot mit ihren Mietpreisexplosionen – klingt nach einer peinlichen Banditennummer, die den Verdacht nährt, dass das Unternehmen BWV in seinem firmeneigenen SEK ziemlich rustikale Pfeifen beschäftigt.

Am Donnerstag, 17. November, findet Ilja Gerhardt abends nach halb neun einen Zettel an seiner Haustür. Seine Recherchen ergeben später, dass das Papier erst nach 19.15 Uhr angebracht wurde. Der BWV teilt mit: „Sehr geehrte Mieterinnen und Mieter, am 18. November 2016 wird eine Polizeiübung in der Beethovenstraße 62–64 stattfinden. Dadurch kann es zu Geräuschbelästigungen kommen.“ Ende der Durchsage.

E-Mail an den Polizeipräsidenten

Gerhardt, nach seiner Arbeit im Max-Planck-Institut mit seinen drei und fünf Jahre alten Kindern und seiner Lebenspartnerin in der Wohnung, setzt noch in der Nacht alle Hebel in Bewegung, um die Attacke abzuwenden. Die Bereitschaftswache der Polizei und die Botnanger Wache sind für Antiterroraktionen nicht zuständig. In seiner Not schreibt er eine E-Mail an den Polizeipräsidenten Lutz mit der Bitte, das SEK nicht für „Entmietmaßnahmen“ bereitzustellen. Am Freitagmorgen um kurz vor acht erreicht er eine BWV-Mitarbeiterin und erfährt zu seinem Erstaunen, „dass der Vorstand des BWV entschieden hat, dass wir erst zwölf Stunden vor dem SEK-Einsatz informiert werden sollten“. Jetzt will man ihm weismachen, dass es sich bei der Hausnummer „wohl um eine Verwechslung“ handelte und „nur“ das Nebengebäude für die Polizeiübung gestellt worden sei.

Am Freitag um 10.30 Uhr lässt der BWV einen weiteren „Aushang“ an Gerhardts Haustür anbringen: Die SEK-Übung solle noch am selben Tag im Nachbarhaus stattfinden. In Gedanken bei seinen Kindern ruft der Mieter erneut bei der Polizei an und findet bei der Pressestelle einen kompetenten Mann: Die Polizei sei falsch informiert worden und entschuldige sich für die Verwirrung. Das SEK-Manöver in der Beethovenstraße sei inzwischen abgeblasen und verlegt worden.

Erinnerungen werden wach

Unsereins hat sich gestern bei der Polizei erkundigt, auf welchem Weg das SEK Orte für Übungen sucht. Antwort: Manchmal würden Häuser von den Besitzern an die Polizei „herangetragen“, manchmal finde man selber was. Im Fall Beethovenstraße, so der Sprecher, ließe sich „nicht mehr klären“, wer den Ort vorgeschlagen hat. „Die Meinungen gehen auseinander.“ Und Erinnerungen werden wach: Im November 2015 fand in einem Haus in der Klingenstraße in Gablenberg eine Feuerwehrübung statt. Danach war das Gebäude abbruchreif und wurde plattgemacht. Besitzer war, welch Wunder, der BWV, der das Haus wie andere in der Klingenstraße 101–105 trotz massiver Proteste für den Abriss vorgesehen hatte. Der eingeplante Investor für die neue Immobilie auf dem Grundstück sprang später übrigens ab – bis heute ist an dieser Stelle eine Brache.

Abrisse für Neubauten mit teuren Wohnungen werden – meist gegen den Protest der Bewohner – mit „schlechter Bausubstanz“ und dem oft fadenscheinigen Argument begründet, Neubauten seien billiger als Sanierungen. Dass dann die Mieten steigen und für die bisherigen Bewohner und andere Normalverdiener nicht mehr bezahlbar sind, spielt in der Baupolitik dieser Stadt schon lange keine Rolle mehr. Wenn Teile der „Vergessenen“ in ihrem berechtigten Zorn zu den Rechtspopulisten überlaufen, trägt die Politik der Profite selbstverständlich keine Schuld.