Demonstration gegen Sozialabbau am 12. Juni auf dem Schlossplatz Foto: Eppler

Wie klugscheißerisch hat man hier mit dem Wort Gewalt operiert, als die WM nach Südafrika vergeben wurde.

Mit einem Anflug von Größe haben die Menschen in der Stadt radikal von Winter auf Sommer umgeschaltet. Dazwischen war nichts, der Sommer ist immer noch keiner, aber man kann die Sonne spüren.

Der Fußball in Südafrika trägt dazu bei. Es mischt sich etwas Neues ins Leben, vielleicht eine Platte mit urbaner Musik aus den Townships, die ich früher nicht beachtet, jetzt aber neugierig gekauft habe.

Die Geschichte anderer zu beachten heißt, die eigene wahrzunehmen. Wie klugscheißerisch hat man hierzulande mit dem Wort Gewalt operiert, als die WM nach Südafrika vergeben wurde. Als wüsste man, wie Gewalt funktioniert.

Meine Stadt-Kolumnen-Welt ist klein. Am Montag, als ich mich auf das Spiel zwischen Italien und Paraguay vorbereitete, fand ich diese Mail im Computer:

"Sehr geehrte Damen und Herren,

zu unserem großen Bedauern müssen wir das für morgen geplante erste Kreativ-Businessfrühstück in der Trattoria Rocco absagen. Es besteht der begründete Verdacht, dass die Veranstaltung von S-21-Gegnern massiv gestört werden soll. Um Ihre Sicherheit zu gewährleisten - auch aufgrund der Vorkommnisse in den letzten Wochen - haben wir uns dazu entschieden, den Termin abzusagen. Die Veranstaltung wird in einem anderen Rahmen nachgeholt . . ."

Diesen Text hat die Wirtschaftsförderung der Stadt Stuttgart an Werber und andere Vertreter sogenannter kreativer Berufe gemailt; über Umwege ist er auch bei mir gelandet. Der Wichtigtuer-Begriff "Kreativ-Businessfrühstück" bedeutet Meinungsaustausch, in diesem Fall über die neue Werbekampagne für Stuttgart 21. Der Termin fiel aus.

Der Streit um das Milliardenprojekt wird nicht länger nur verbal ausgetragen. Die Stadt befindet sich in einem neuen Stadium des Konflikts, und es ist schwer, die Lage zu beurteilen. Sich politisch und moralisch gegen Gewalt zu bekennen erfordert ungefähr so viel Zivilcourage, wie die Gesundheitsschädlichkeit einer abgefeuerten Atombombe zu beklagen.

Es gibt Momente der Gewalt, gegen die ist keiner gefeit. Es passiert mir, und da bin ich wieder beim Weltallgemeingut Fußball, dass ich mich bei einem Viertligaspiel der Stuttgarter Kickers in Gesellschaft einer Handvoll Nazis befinde. In realistischer Einschätzung meiner Kampfchancen schaue ich sogar zu, wie die Nazis CDs mit rechtsradikalen Songtexten verkaufen. Dennoch, schätze ich, bin ich kein Nazi.

Dass S-21-Gegner oder Trittbrettfahrer im Sog des Protests an sich gewalttätig werden, war zu erwarten. Sie bedrohen Befürworter und Dienstleister des Projekts, zerstören Dinge, machen Krawall. Wieder ist es simpel, sich zu distanzieren. Und wieder ist das Problem damit nicht gelöst.

Es gibt eine Kultur und eine Ästhetik des Protests (Widerstand ist mir aus historischen Gründen dafür ein zu großes Wort), und sie prägen das Klima. Als der S-21-Gegner Gangolf Stocker neulich dazu aufrief, das Werbeblatt "Dialog 21" vor die Bürotür des S-21-Sprechers Wolfgang Drexler zu werfen, hielt er das für eine spektakuläre Aktion. Die aber fiel so fantasievoll aus wie die Plakatkunst der S-21-Gegner, nämlich spießig. Ein Haufen Altpapier vor der Tür sieht scheiße aus, und ich wäre nicht gern der Schöpfer dieser Installation. Schlechter Stil ist schlimmer als keiner. Protest wirkt durch seine Form.

Der Protest-Chef Stocker ist so naiv, angereiste Autonome, die Politiker mit Unrat bewerfen, pauschal als "schwarze Blödmänner" abzutun. Stockers Wortwahl wird gern als "demagogisch" kritisiert. Das ist zu viel der Ehre. Demagogie ist eine Form von Kunst. Man weiß nicht viel über die Autonomen; sie sind ein Phänomen. Mancher von ihnen hat ein risikoreicheres Lebenskonzept als der friedliche Bahnhofsdemonstrant. Entsprechend hart kann ein schwarz Vermummter sein - ist er nicht ein unterernährter Veganer aus Heslach.

Wenn die Organisatoren der S-21-Gegner keine Strategie finden, Gewalttäter von Fall zu Fall zu isolieren, werden sie kluge und prominente Unterstützer verlieren. Die ersten kündigen ihren Abgang an. Das macht den Protest nicht effektiver. Jetzt hilft nur Fantasie.