Gablenberger Hauptstraße Foto: Petsch

Als ich den Silvester-Müll sah, überlegte ich, wo ich ins neue Jahr hineinspazieren könnte

Als ich den Müll von der Ballerei auf der Straße sah, überlegte ich, wo ich ins neue Jahr hineinspazieren könnte, ohne gleich am ersten Tag in die Hundehäufen des Lebens zu treten. Obwohl ich die Silvester-Knallerei nahezu traumlos verpennt hatte, fühlte ich mich etwas angeschossen am Neujahrsmorgen und nahm deshalb den nächsten Weg. Seit die Bahnlinie 4 meinen Heimathafen Hölderlinplatz anfährt, kann ich ohne Umsteigen den Ostendplatz erreichen. Auch die Buslinien 40 und 42 führen vom Westen in den Osten, wohl als Zeichen für mich, die Seiten zu wechseln.

Der Ostendplatz, sagte ich mir, ist ein guter Platz. Er macht auch an einem Katermorgen bella figura, selbst an einem Neujahrstag, der ein stinklangweiliger Sonntag war. Wollte man sich der Geschichte des Ostendplatzes nähern, müsste man eine Zeitungskolumne mit Böllern sprengen. In der Zeit der Arbeiterbewegung, als es noch sozialdemokratische Sozialdemokraten gab, hieß der Ostendplatz bei den Kämpfern nur der "Rote Platz".

Essers "Ostend-Roman" ist heute eine Legende

Tote Plätze gibt es anderswo. Wenn es der Ostendplatz im Lauf der Geschichte zu unvergleichbar größeren literarischen Ehren gebracht hat als jeder andere Stuttgarter Platz, dann nicht nur deshalb, weil es sich bei den meisten Plätzen der Stadt um hässliche Asphaltlöcher wie den Österreichischen Platz oder um chaotische Straßenkreuzungen wie den Hölderlinplatz handelt (von der entsetzlichen Stele dort ganz zu schweigen).

Manfred Essers 1978 im März-Verlag erschienener "Ostend-Roman" ist heute eine Legende; Ende vergangenen Jahres kam das Buch des 1995 verstorbenen Schriftstellers bei einer Ausstellung im Literaturhaus auf dem Bosch-Areal zu Ehren. "Auf dem Straßenbahn-Depot am Ostendplatz scheppern die Linien 4 und 8. Die Kurden, die hier in Notunterkünften nahezu auf diesen Schienen hausen, werfen sich im Schlaf", heißt es im ersten Kapitel.

Im Straßenbahn-Depot ist heute ein Kinder- und Jugendzentrum untergebracht, es war auch mal Staatstheater-Filiale. Auf den Schienen scheint keiner mehr zu hausen, und zum Glück gibt es noch das Toilettenhaus mit seiner Pagodenarchitektur von 1920. Einige Male vom Abriss bedroht, steht es heute wie eine Eins neben dem runden Zeitungskiosk, und solange eine Bedürfnisanstalt und ein Kiosk an einem Ort harmonieren, hat ein Platz alle Aussichten, als solcher wahrgenommen zu werden.

An Silvester 2011 wurde, soweit ich den Raketenschrott beurteilen kann, am Ostendplatz hemmungslos geschossen. Das Bedürfnis, Geld anzuzünden und in die Luft zu lassen, erinnerte mich angesichts der allgemeinen Wirtschaftslage an ein neues Buch meines Berliner Spaziergängerfreundes Klaus Bittermann: "Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol".

Der Morgen des Neujahrstags ist kein Tag, um über die Menschen in einer Gegend etwas zu sagen. Die meisten werfen sich zu dieser Zeit im Schlaf, ohne wie Essers Romanfiguren an die Revolution zu denken. Nur ein Dichter könnte aus der Ferne in ihren Bett-Gesichtern lesen.

"Am 1. Januar ist unser Restaurant aus Altersgründen geschlossen."

Weiter in die Gablenberger Hauptstraße, leicht ansteigend, trotz der Neujahrsstille voller satter Bilder. Ich stand vor einem kleinen olivgrünen Haus mit pinkfarbenem Sockel und einem merkwürdig dynamischen Dach, teils schräg, teils flach. An der Frontseite hängt, eingerahmt von Stuttgarter-Hofbräu-Leuchten, ein Schild mit weithin sichtbarer Frakturschrift: "Krämers Bürgerstuben". Hinter dem Glas der Eingangstür ein kleiner Zettel:

"Am 1. Januar ist unser Restaurant aus Altersgründen geschlossen. Wir danken für Ihre Treue und wünschen alles Gute."

Bei näherem Hinsehen entdeckte ich die ganze Wahrheit: Die Mitteilung war von Ende 2009. Krämers Bürgerstuben, unter der Leitung der Familie Hofacker, galten als gutes, angesehenes Speisehaus. Es stimmt mich etwas seltsam, wenn die Nachricht über den Abschied der Wirtsleute auch zwei Jahre danach unvergilbt an der Eingangstür hängt. Als wäre das Gasthaus ein Geisterhaus.

"Klein, aber mein"

Noch ein schneller Blick um die Ecke in die Wagenburgstraße zur Kleinkunstbühne Laboratorium. Im neuen Jahr feiert der Laden seinen 40. Geburtstag, und nirgendwo ein Abschiedsbrief.

Es ist kein Fehler, das Neujahr mit einem Spaziergang durch die Leere des morgendlichen Ostens zu beginnen. In der Libanonstraße las ich schmunzelnd die Inschrift an der Wand eines Backsteingebäudes; vermutlich mit Genugtuung hat sie der Häuslebauer Karl Dausch im Jahr 1909 angebracht: "Klein, aber mein".

In der Libanonstraße fiel mir ein, wie mir vor ein paar Jahren eine Dame Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählte. Als sich die Arbeiterkinder aus der Gablenberger Libanonstraße und die besser gestellten Kinder von der Gänsheide Straßenkämpfe lieferten, obwohl es damals noch kaum Straßen-Gangs und Kapuzenjacken bei uns gab. Das war vor dem Zweiten Weltkrieg, und auf dem Höhepunkt des Klassenkampfs im Osten setzte die GänsheideArmee gegen die Libanon-Truppen ihre schärfste Geheimwaffe ein: Gartenschläuche, die Vorläufer der Wasserwerfer.

Adios, Ostendplatz, ich bin zurück in der Gegenwart.