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Joe Bauer über den Neckar und den Wunsch eines Tages in einer Strand-Bar am Neckarufer zu sitzen.

Ich sitze in Frankfurt am Mainufer, schaue den Schiffen und Menschen hinterher, und neben mir summt mein alter Freund S. ein Lied der Stranglers aus den Siebzigern: „Walking on the beaches, looking at the peaches.“ Es ist Sommer in der Stadt, ein heißer Maitag. Der große Protestmarsch der Blockupy-Bewegung gegen die Finanzhaie war gestern, und es gibt nichts Besseres zu tun, als in einem Café an den Main-Promenaden den flanierenden Pfirsichen Respekt zu zollen. Man kann über jede verdammte Stadt verzweifeln und sie samt ihrer korrupten Politik verfluchen, aber wenn sie einen zugänglichen Fluss hat, versöhnt das Wasser einen für eine Weile mit vielem.

Eines Tages würde ich gern in einer Strand-Bar am Neckarufer sitzen, einem Schiff hinterherschauen und wieder einmal das Lied auf John Silver singen, auch wenn es noch keiner geschrieben hat, außer vielleicht Hölderlin in einem seiner NeckarGedichte, die allerdings nicht um Stuttgart kreisen: „Wie Leben aus dem Freudebecher / Glänzte die bläuliche Silberwelle . . .“

Im Wissen um meine Neckar-Neugierde schickte mir dieser Tage freundlicherweise der Kollege Bernhard Ubbenhorst einige Ergebnisse seiner jüngsten Forschungen über Stuttgarts vergessenen Fluss:

„Als Cannstatt sich im 18./19. Jahrhundert noch ‚Weltbad‘ nannte, war neben dem Thermalbad auch das Bad im Neckar sehr beliebt: bei Zaren, Kaisern und Königen und beim gewöhnlichen Volk ohnehin. Unweit des heutigen Stuttgarter Hafens kam es Mitte des 19. Jahrhunderts sogar zu einem höchst ungehörigen Bad am Neckarstrand. Schwaben sei bekanntlich nicht erst seit heute Sitz und Sammelplatz der Phantasten, Sectirer, Schwärmer und Pietisten, bemerkte dazu ein unbekannter Autor 1867 in der Illustrierten ,Gartenlaube‘.

Ob im Jordan oder im Neckar, ein gewisser Herr Oncken aus Varel in Niedersachsen, so etwas wie der Gründervater der Baptisten in Kontinentaleuropa, befand damals, dass eine echte Taufe etwas für Erwachsene sei und in einem Fluss stattzufinden habe. An einem Abend tauchte er am Neckarstrand gegenüber von Gaisburg gleich reihenweise seine zahlreichen Stuttgarter Schäfchen kopfunter in die Fluten. Als Werk unchristlicher ‚Wiedertäufer‘ verschrien, sorgte diese Taufe im Fluss für einen gehörigen Skandal.

Damals gab es noch Neckarstrände, Neckarauen und sogar eine Neckarfischerei. In Cannstatt war der nur bis dorthin schiffbare Neckar schon seit Römerzeiten eine wichtige Lebensader und das Tor zum Handel mit der Welt.“

Kaum hatte ich diese Zeilen über meine Homepage zugänglich gemacht, erhielt ich eine Mail von Frau Phyllis M. Riefler-Bonham. Sie berichtet, wie sie vor über einem halben Jahrhundert mit ihrem Großonkel, dem Untertürkheimer Friseursalon-Besitzer Oskar Rogg, und ihrer Großtante Hedwig Rogg lange Spaziergänge am Neckarufer unternahm. Aber das war nicht alles. „Dann geschah ein kleines Wunder“, schreibt sie. „Die Großtante in Amerika schickte mir zu Weihnachten ein paar Schlittschuhe, und der nächste Weg, die auszuprobieren, war nicht die Waldau, sondern der Neckarhafen.“ Das war in den fünfziger Jahren, 1954 hatte der Bau des Stuttgarter Hafens begonnen. Das Mädchen, keine zehn Jahre alt, war vermutlich der erste Mensch der Welt, der den Neckarhafen mit amerikanischen Schlittschuhen befuhr. Nicht ohne Folgen. Frau Riefler-Bonham, von Beruf Dolmetscherin, lebt heute die meiste Zeit in Rochester im US-Bundesstaat New York.

Keiner muss sich wundern, wenn mir die Neckar-Anekdoten ausgerechnet am Frankfurter Mainufer durch den Kopf gehen. In Stuttgart beschäftigt sich kaum einer mit seinem Fluss. Es sei denn, es gibt die Hoffnung, in seinem Namen Geschäfte zu machen wie im Neckarpark, auch wenn bis heute keiner weiß, warum der so heißt.

Nachdem die Saison der Pfirsiche am Strand vorbei schien, gingen wir weiter ins Städel-Museum. In der Abteilung für zeitgenössische Kunst stand ich vor zwei Bildern des Stuttgarter Malers Georg Karl Pfahler. Einige Male noch habe ich neben diesem freundlichen, aufgeschlossenen Mann in Neckarnähe gesessen, in der Sauna im Bad Berg. Vor zehn Jahren ist er gestorben. Zum Glück gibt es Dinge, die von der Geschichte und den Menschen bleiben, auch wenn das am Neckar nicht viele begreifen.