Hat noch einen Koffer in Untertürkheim: Guido Messers "Ausländer" Foto: Petsch

Die Bus- und Straßenbahnfahrer gingen in den Streik und ich ins Trainingslager.

Als klar war, dass die Bus- und Straßenbahnfahrer in der Stadt streiken würden, ging ich ins Trainingslager. Bahnstreiks, vor allem solche, die vom Arbeitgeber SSB provoziert und geschürt werden, haben mich gelehrt: Stillstand ist die Mutter der Bewegung.

Es war Sonntagabend, mit der noch betriebsbereiten Linie 4 fuhr ich zum Untertürkheimer Bahnhof in der Absicht, mich von dort aus in neuen Stiefeln bis zum Obertürkheimer Bahnhof durchzuschlagen. Weil ich ortsunkundig und es in Untertürkheim dunkel war, dunkel wie sonst nur in Botnang, folgte ich der Buslinie und kämpfte mich über die Haltestellen Großglocknerstraße, Haus am Weinberg, Ebniseestraße usw. bis zur Endstation durch.

Wie gesagt, es war Nacht, ich war einsam, und ein Stiefel drückte an der Ferse. Mulmig aber wurde mir erst, als ich auf meinem Marsch entlang der alleenartigen Landstraße von UT nach OT bemerkte, dass ich mein Taschentelefon vergessen hatte. Man sollte nicht unbewaffnet von UT nach OT gehen. Die alten Türkheimer Kriege sind nicht vergessen. Es ist noch was offen zwischen Unten und Oben.

Ich kam, auch weil ich keinem Menschen begegnete, gut voran und atmete auf, als ich den Bahnhof von Obertürkheim sah. Den Bahnhof von Obertürkheim erkennt man an dem schwarzen Mann auf dem Vorplatz. Der Mann trägt Hut, Krawatte, Schnauzbart und hebt, obwohl aus Gusseisen, in eindeutiger Reiseabsicht sein Bein. Neben ihm steht ein Koffer. Im Mundwinkel hat der Mann eine Kippe, und jede Kippe im Mundwinkel erinnert mich an Raymond Chandlers Satz über die Männer, "die reden und spucken, ohne das Eigenleben der Zigarette in ihrem Gesicht zu stören". (Keith Richards beispielsweise wahrt den Respekt vor dem Eigenleben einer Zigarette sogar beim Singen.)

Gut, alte Geschichten, aber meinen ersten Streiktest hatte ich bestanden. Bei der Ankunft am Bahnhof fiel mir auf, dass er gastronomisch außerordentlich reichhaltig bestückt ist. Neben dem Gasthaus Zum Wurstkessel gibt es eine Kombi-Kneipe aus Kebab und Asia-Wok sowie die Wirtschaft 's Dampflökle. Diese Herberge betrat ich in der Gewissheit, mich nach meiner Eroberung der Landstraße auf eine gewisse Unverletzlichkeit verlassen zu können. Hinter dem Tresen hing ein Schal von Borussia Mönchengladbach mit angesteckten Pro-Stuttgart-21-Buttons, davor standen gelangweilt einige Spielautomaten herum, und am Tisch versuchten sich ein paar Jungs mit dem Knobelbecher in den Praktiken zeitgenössischer Volkswirtschaft. Einer von ihnen trug ein Sweat-Shirt mit der Aufschrift "Respekt!". Da wusste ich, dass in Obertürkheim alles in Ordnung ist. Erst später, am Bahnsteig, wunderte ich mich über ein Schild mit der Botschaft überheblicher Nichtbeachtung: "Vorsicht, schnelle Vorbeifahrten!"

In angemessener Gelassenheit trank ich im Dampflökle einen Bohnenkaffee, sah beim Blick auf den Fernseher, dass Bayern München in Hannover verloren hatte - und wurde doch noch zornig. Gute Männer verlieren in Hannover keine Fußballspiele, sie verlieren den Respekt vor Hannover.

Dass andererseits so wenig Leute Respekt vor Stuttgart haben, muss daran liegen, dass sie das Eigenleben dieser Stadt nie mit mir auf einem Marsch von UT nach OT erkundet haben. In jüngster Zeit wird wieder viel gelästert über die letzten schwäbischen Menschen von Stuttgart, obwohl klar sein müsste: Einen Bus- und Bahnstreik in der Stadt nehmen wir als proletarischen Furz, wenn wir erst mal zwanzig Minuten schneller in Ulm sind.

Respektlosigkeit vor den Deppen von Stuttgart herrscht weniger in Obertürkheim, es ist ein Hauptstadt-Problem. Herr Dirk Pilz, ein im Vogtland geborener Theaterkritiker der "Berliner Zeitung", hat neulich Stuttgarts künftigem Schauspieldirektor Armin Petras (zurzeit Gorki-Theater Berlin) die Frage gestellt: "Über München haben Sie einmal gesagt: Das ist wie im Knast leben. Ist es in Stuttgart etwa besser?" Herr Petras hat geantwortet: "Stuttgart ist noch fremder! Aber ich brauche die Reibung für meine Arbeit . . ." Das Gespräch ging weiter, ich will es nicht sinnentstellen, muss aber maßhalten, deshalb nur so viel: "Ich habe an 22 Stadttheatern gearbeitet", sagt Herr Petras. "Stuttgart ist in Deutschland für mich das Fremdeste." Daraus hat man die Überschrift gemacht: "Es gibt nichts Fremderes als Stuttgart!"

Das weltläufige Eigenleben Berlins offenbart sich einem erst, wenn man in Herrn Pilz' Text den Satz des Fragestellers liest: "Vielleicht wird es auch langsam Zeit, dass der Umbruch im Osten auch mal in Stuttgart ankommt." Mit dieser Art Geschichtsnachhilfe hat Berlin es leider etwas zu eilig. Wir in Stuttgart sind schon stolz, weil inzwischen auch uns die Nachricht erreicht hat, man habe mitten auf der Straße John F. Kennedy erschossen. "Das tut mir leid", habe ich gesagt, "Jack hätte nicht die Landstraße nach Obertürkheim nehmen sollen."