Bundespräsident Joachim Gauck Foto: dpa

Wenn es bei einer Amtszeit bleibt, dann hat Joachim Gauck in diesen Septembertagen die Hälfte seiner fünf Jahre als Bundespräsident noch vor sich. Deutschlands Rolle in der Welt ist zu seinem zentralen Thema geworden. Er riskiert damit einiges.

Berlin - Joachim Gauck geht in die Halbzeit – und niemand pfeift. Das Publikum ist zufrieden mit seinem Staatsoberhaupt. Es gibt Umfragen, wonach 87 Prozent der Bürger seine Amtsführung absolut in Ordnung finden, nur 13 Prozent haben irgendetwas zu bemäkeln. Er hat es gut gemacht. Natürlich hat er das. Die Frage ist nur: Nach welchem Maßstab?

Der Vergleich zum Vorgänger bietet sich an, aber der ist wohlfeil und nichtssagend. Als Gauck das Amt am 18. März 1012 übernahm, hatte es seine Würde verloren – genau so übrigens wie die Berichterstattung über das Amt. Christian Wulff hatte sich verrannt, verstrickt, verlaufen im Labyrinth der Macht, und mit ihm all diejenigen, die sich auf die kleinliche Suche nach Zimmerbelegen, Abrechnungen und Grundbucheinträgen gemacht hatten. Sein Rückzug gab den Raum für einen Neubeginn. Es bedurfte keiner übermenschlichen Tugenden, in diesem Dunkel zu leuchten – eine gesunde Distanz, sichere Urteilskraft und viel Lebenserfahrung reichten völlig – und nichts davon geht Gauck ab.

Da lohnt schon eher der Vergleich mit dem Vor-Vorgänger Horst Köhler. Auch ein Aussteiger, wenn auch unter ehrenwerten Umständen. Sicher ging Köhler die eitelkeitunterlegte Selbstsicherheit des heutigen Bundespräsidenten ab. Und vielleicht lag in diesem Mangel an innerlicher Unangreifbarkeit der Grund für Köhlers Flucht in den Populismus. Als solchen jedenfalls mussten die Politiker seine gelegentlichen Pauschalkritiken verstehen, die öffentlichen Beifall garantieren. Und genau an dieser Stelle ist Gauck immun. Als der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Parteien pauschal als „machtversessen und machtvergessen“ abkanzelte, nahm Gauck diese Vorlage geradezu dankbar auf. Er konnte seine Position markieren: „Eine solche Kritik an der Politik werden Sie von mir nicht hören“, sagte er. Der Verdruss über sie sei zu groß, „als dass ich ihn noch fördern möchte“. In dieser Unbedingtheit wirkt noch das Pathos des Freiheitsenthusiasten nach, der – anders als mancher DDR-Bürger - den Untergang des SED-Regimes ausschließlich als grandiose Befreiung verstand. Ihm ist der Parlamentarismus ein Glück und Gewinn - zu kostbar, um ihn des Applauses wegen billig abzukanzeln. Deshalb waren alle Erwartungen so irrig, Gauck könnte sich im höchsten Staatsamt als Gegenspieler der Kanzlerin gefallen. Eine Befürchtung, die nicht zuletzt Angela Merkel selbst umgetrieben haben dürfte.

So ist es nicht gekommen. Kleine Scharmützel gab es. Im TV-Sommerinterview 2013 mahnte Gauck die Kanzlerin, ihre Euro-Politik besser zu erklären. Das schon. Die Gesetze zum Euroschirm hat er länger aufgehalten, als es sich die Bundesregierung gewünscht hat. Aber da kam Gauck einer Bitte des Verfassungsgerichtes nach. Und jüngst hat er sich schwer getan, das Gesetz über die Reform der Abgeordneten-Diäten zu unterzeichnen, wofür ihm der Boulevard huldigte. Vielleicht hat ihm das gefallen. Aber das ist unbedeutend. Gauck hat es im Gegenteil sehr genau verstanden, dass ein Staatsoberhaupt nicht gegen die eigene Regierung Profil gewinnen kann. Wirkliche Wucht gewinnen präsidiale Worte nur, wenn sie einen Trend treffen, eine schon vorhandene Bewegung verstärken, beschleunigen, auch erklären. Nicht im Kontrast, sondern in Abstimmung mit der Regierung.

Genau so ist es gekommen. Im vergangenen Jahr war Gaucks Idee noch gescheitert, den Bürgern die Europa-Idee neu einleuchtend zu machend, ansteckend und begeisternd. Das wollte keiner hören. Die Musik spielte anderswo. Dann aber fanden Gauck und der politische Zeitgeist zusammen. Zwei Reden ragen heraus. Der Auftritt des Präsidenten im Januar auf der Münchner Sicherheitskonferenz und seine Rede auf der Danziger Westerplatte anlässlich der Gedenkfeier zum deutschen Überfall auf Polen 1939. In München versprach er die Übernahme größerer Verantwortung durch Deutschland – ausdrücklich auch militärisch. Im Kampf für Menschenrechte sei es manchmal erforderlich, „auch zu den Waffen zu greifen“, ergänzte er später. Und in Danzig versicherte er den Polen, dass wir uns „jenen entgegenstellen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen“. Und dann fügte er noch hinzu: „Wir werden Politik, Wirtschaft und Verteidigungspolitik den neuen Umständen anpassen.“ Präsidiale Brand-Sätze, kein Zweifel. Anstoß und Kritik erregend, Zustimmung gleichermaßen. So hatte noch kein Bundespräsident geredet. Aber – das ist wichtig – nicht auf eigene Rechnung. In München stimmten Außenminister und Verteidigungsministerin im Anschluss gleiche Töne an. Am Tage der Danzig-Rede sprach Angela Merkel im Bundestag und schickte ähnliche Mahnungen an Vladimir Putin. Man mag Gaucks Rede kritisieren, aber man darf ihm nicht unterstellen, er treibe hier sein privates Spiel. Gauck versteht sich als Interpret der deutschen Politik, nicht als ihr Gestalter, selten als ihr Kritiker. Nie aber als Verstärker eines angeblich gesunden Menschenverstandes, der den Herrschenden nahe gebracht werden müsse.

Wenn das als mutig erscheint, weil es neue, nicht gerade bequeme Entwicklungen begreifbar machen will, wird Gauck das recht sein. Es ist nicht so, dass er den Zuspruch nicht schätzte. Im Gegenteil. Es gefällt ihm zu gefallen. Das ist durchaus sein schwacher Punkt. Mut, nun ja. Den hat man Gauck unterstellt, als er in der Türkei ungewöhnlich klar, ungewöhnlich heftig auf Demokratie-Defizite der Regierung Erdogan aufmerksam machte - nicht hier in Deutschland, sondern anlässlich eines offiziellen Staatsbesuches in der Türkei. Erdogan hatte die harsche Kritik sicher redlich verdient. Dessen böse Reaktion war auszuhalten angesichts lebhaften Zuspruchs daheim. Tatsächlich mutig wäre es gewesen, hätte Gauck die Gelegenheit genutzt, dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama bei seinem Besuch im Juni zu sagen, was zu sagen gewesen wäre. Und das hat Gauck nicht getan.

Tapferkeit vor dem Freunde ist auch eine Tugend. Da hat sich Gauck im Fall USA nicht ausgezeichnet. Nicht aus Feigheit, nicht aus Opportunität. Aus Überzeugung. Es fällt auf, wie der sprachmächtige Gauck beim gesamten Thema NSA sprachlos geblieben ist. So etwas unterläuft ihm nicht. Warum hat er geschwiegen? Er hat es nicht gesagt. Also muss spekuliert werden. Es wird wohl an dem Freiheitspathos hängen, das Gauck stets begleitet. Er ist im Macht- und Einflussbereich der UdSSR aufgewachsen. Die Vereinigten Staaten waren für ihn weniger ein politisches Gebilde als eine Verheißung – auf Freiheit, Glück und Selbstbestimmung. Er ist nach der Wiedervereinigung nicht müde geworden, diese Werte zu preisen. Da wäre eine Ansprache an den US-Präsidenten im Stile des Türkei-Auftritts wohl einer Art psychologischem Vatermord gleichgekommen. Hoch gegriffen, wild phantasiert. Auch möglich, dass die Wahrheit banaler ist: Vielleicht hat sich Gauck auf die Zunge gebissen, weil Angela Merkel nicht an einer Eskalation der Spannungen interessiert gewesen ist. Dann also wäre Gauck seiner Linie treu geblieben, der eigenen Regierung nie in den Rücken zu fallen.

Gauck genießt die Macht der Worte. Und doch redet er über eines nie. Strebt er eine zweite Amtszeit an? Er würde seine Wiederwahl genießen. Am Ende der zweiten Wahlperiode wäre er über 80. Da muss man abwarten.