Szene aus „Jakob Lenz“. Foto: Uhlig

Die wohl erfolgreichste Oper aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist am Samstag im Opernhaus so ausgiebig bejubelt worden wie schon lange keine Premiere mehr.

Stuttgart - „Wenn ich nur unterscheiden könnte, ob ich träume oder wache!“ So stöhnt Lenz, der Dichter, der Verwirrte, in jener Erzählung, die mit zum Besten und Berühmtesten seines Schriftsteller-Kollegen Georg Büchner zählt. Auf gerade mal 30 Seiten zeichnet dieser in „Lenz“ das Psychogramm eines Seelenverwandten, dem es so vorgekommen sei, „als existiere er allein, als bestünde die Welt nur in seiner Einbildung, als sei nichts als er; er sei das ewig Verdammte, der Satan, allein mit seinen folternden Vorstellungen.“

Lenz fühlte sich einsam und unverstanden. Büchner ebenfalls. Auch dass Wolfgang Rihm Ende der 1970er Jahre Büchners Novelle in Musik setzte, muss unbedingt mit dem Gefühl zu tun gehabt haben, das den Komponisten umtrieb, als er in einer Zeit des streng geplanten, ausgesprochen kopflastigen Konstruierens von Klängen einsam das Recht von Individualität und vor allem von Gefühl in der Musik für sich in Anspruch nahm.

Rihm tat dies, beflügelt auch von Michael Fröhlings klug aus Büchners Text, aus Notizen und Texten des Sturm-und-Drang-Dichters und seiner Zeitgenossen montiertem Libretto, mit einer Konsequenz, die seine Kammeroper zum Erfolgsstück machte. Rihms Stück wirkt, wie auch die Stuttgarter Premiere des „Lenz“ am Samstagabend bewies, bis heute stark – zum einen wegen seiner zeitlos gültigen Geschichte, zum anderen wegen einer Musik, die auf packende Weise die hermetischen, irrlichternden Innenwelten eines an Welt und Wahn verzweifelnden Menschen vorführt.

Diese Musik zählt mit zum Besten und Eigensten, was Deutschlands seit Jahrzehnten erfolgreichster und wohl auch produktivster Komponist je geschrieben hat. Dass man den Mut, mit dem der damals gerade 25-jährige Rihm hier gegen die damalige Avantgarde anging, heute nicht mehr spüren kann, ist der einzige Aspekt, der das Alter des vor 35 Jahren uraufgeführten „Lenz“ verrät.

Der Rest ist so aktuell wie das geschilderte Krankheitsbild eines Getriebenen, der auch ein Burn-out-Patient sein könnte: Elf Musiker des Staatsorchesters, mit Ruhe und Übersicht dirigiert von Franck Ollu, beleuchten in dieser extrem konzentrierten, sprachnahen, klanglich skelettierten Oper einen seelischen Innenraum, lassen den Atem des Dichters ebenso tönen wie die Schritte, die diesen ins Gebirge führen, beleuchten den Wahn der schizophrenen Schübe, lassen grell den das Stück prägenden Dreiklang aufscheinen, der auch das schrille „Teufels-Intervall“ der übermäßigen Quarte enthält, und weben Anklänge an frühere Musiken ein, die wie der Geist des Dichters auf schwankendem Boden stehen.

Man hört Madrigale, Motettenhaftes, Tänze, Klagegesänge und vor allem Choräle wie durch einen Schleier hindurch. Sie lassen sich kaum greifen – so wie die Welt des Bekannten und Vertrauten, an dem sich der Dichter nicht mehr festhalten kann. Und sie dienen nicht mehr wie bei Bach als Ruhepunkte und Bekenntnismusik, machen aber deutlich, dass diese Kammeroper im Trauerton, die immer wieder auch auf zentrale biblische Worte und Szenen verweist, auch als Passion verstanden werden kann.

Die Trauer greift Martin Zehetgruber auf, indem er die Wände und das Mobiliar eines hermetischen, dunklen, rückwärtig verspiegelten Bühnenkastens über einem mit viel Wasser befeuchteten Boden kunstvoll verzerrt, variiert und gegeneinander verschiebt. Die Beleuchtung (Alexander Koppelmann) nimmt die Dramaturgie der gereihten Einzelbilder auf, die immer irgendwo zwischen Realismus und Surrealismus schweben; manchmal wirken die bewegungsarmen Szenen durch die schroffen Lichtwechsel wie eine Dia-Show. Mit der Idee der Passion beschäftigt sich Andrea Breth – bis hin zu jener stillen Szene, in der die sechs als „Stimmen“ bezeichneten Ensemblesänger (die meisten von ihnen sind Mitglieder des Stuttgarter Opernstudios) dem Leidenden ein Kreuz auf die Schulter legen.

Allerdings geht es Breth ganz in Rihms Sinne nicht um eine Handlung im klassischen Sinne – auch wenn am Ende des Stücks die Zwangsverwahrung des Wahnsinnigen steht. Gezeigt werden vielmehr Bilder des Verfalls, und darin sind Komponist und Regisseurin Büchners Erzählung (auch wenn diese sich äußerlich zwischen zwei konkreten Daten bewegt) ganz nah.

Ob der Geist, das doppelte Ich, das Jakob Lenz zu Beginn der Oper beschreibt, unbedingt als Schauspieler-Double aus dem Schnürboden fallen und ob der Pfarrer Oberlin, bei dem Lenz seinerzeit Zuflucht und liebevolle Betreuung fand, so kühl und distanziert sein muss. wie ihn hier Henry Waddington singt und spielt, darf man sich fragen. Ansonsten aber ist eine Inszenierung zu sehen, die aus dem Geist der Musik und der Büchner-Novelle heraus starke Momente geformt hat.

Da ist das tote Kind (die Erinnerung des Dichters an seine und Goethes Jugendliebe Friederike), das immer wieder durchs Bild getragen wird, da gibt John Graham-Hall einen Kaufmann, der hier ganz der Arzt sein darf, der er gerne gewesen wäre, und da sitzt Oberlin stumm im Frauenkleid da – womöglich als seine eigene Frau, die im Libretto nicht vorkommt. Die „Stimmen“ sind gefrorene Figuren im Raum, mal Selbstmörder, mal Schüler. Und Natur gibt es nur in Vitrinen – als beginne Büchners Novelle mit dem Satz „Am 20. ging Lenz ins Museum“.

Auf einem Schaukasten steht im fünften Bild Georg Nigl, der den Titelhelden schon andernorts gegeben hat und dessen Präzision und Hingabe nun auch in Stuttgart das Publikum hinreißen. Er predigt über eine Gottheit, die sich nicht mehr (be-)greifen lässt. Dass am Ende des Stücks ein rauschhaftes Gleiten in den Abgrund stehen wird, lässt sich hier bereits ahnen – auch wenn der finale Höllensturz der Musik sich von Büchners Vorlage, namentlich von dessen resignierendem Schlusssatz („So lebte er hin“) absetzt. Der Komponist selbst wohnte der Premiere bei, ließ sich und sein Jugendwerk feiern, umarmte die Regisseurin und den Sänger der Titelpartie, weil sie etwas geschaffen hatten, das Leben hat, und dies ist, wenn man Büchners Lenz glauben mag, ja ohnehin „das einzige Kriterium in Kunstsachen“.