Der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann vor dem zweigeschossigen Fahrrad-Parkhaus am Bahnhof in Amsterdam Foto: Ministerium

Wie kann man in Großstädten die Lebensqualität steigern? Wie verhindert man den Verkehrskollaps und dreckige Luft? Welche architektonischen Elemente sorgen für Charme in den Innenstädten? Der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hat sich umgesehen.

Herr Hermann, Baden-Württemberg soll eine Pionierregion für nachhaltige Mobilität werden. Wie das gehen kann, haben Sie sich in sechs EU-Städten angesehen. Hat sich die Reise gelohnt?
Ja! Ziel war, in europäischen Städten, die vergleichbar sind mit uns, zu schauen, wie sie Verkehrs- und Mobilitätsthemen angehen. Und da war klar, Kopenhagen steht ganz vorne. Denn Kopenhagen ist die Stadt von Jan Gehl, einem der anerkanntesten Stadtentwickler und fast schon ein Guru auf dem Gebiet. Seine Philosophie heißt: Wir bauen für Menschen Städte mit Lebensqualität, sein Ansatz ist ganzheitlich. Er plant aus der Perspektive des Menschen mit dem Ziel, seine Lebensqualität zu verbessern, und berät Städte wie Moskau oder New York. Außerdem ist er erfolgreicher Autor und hat mir sein erstes auch in Deutsch erschienenes Buch „Städte für Menschen“ überreicht. Wir haben also nicht nur geguckt, wie die Kopenhagener Rad fahren, sondern insgesamt Stadtentwicklung betreiben.
In Kopenhagen nutzen 38 Prozent der Pendler das Fahrrad. Täglich werden dort 1,3 Millionen Kilometer mit dem Rad zurückgelegt. Ist das auch nur ansatzweise bei uns zu schaffen?
Kopenhagen fördert und entwickelt in beeindruckender Konsequenz den Radverkehr, und das seit einigen Jahrzehnten. Daher kommen auch solche Zahlen, bei denen man blass wird. Kopenhagen ist absolut vergleichbar mit Stuttgart bei der Einwohnerzahl, und auch der Großraum Kopenhagen entspricht der Region Stuttgart. Was dort phänomenal ist: Kopenhagen will bis 2025 die erste klimaneutrale Hauptstadt der Welt werden. Deshalb ist völlig klar, dass sich beim Verkehr etwas tun muss – trotz der 38 Prozent Radfahrer. Stuttgart hat nur sieben Prozent. Allerdings liegt der Etat für Radverkehr in Kopenhagen auch bei mindestens Faktor zehn gegenüber Stuttgart. Dort herrscht einfach eine größere Bereitschaft, große und visionäre Ziele strategisch anzugehen.
Wie funktioniert dort die Radinfrastruktur?
Der Straßenraum ist in drei Stufen gegliedert, in der Mitte die Autos, daneben eine Stufe höher die Radfahrer und noch eine Stufe höher die Fußgänger. Damit sind die Verkehrsarten eindeutig getrennt, ein sehr schützender Mechanismus. Und die Radwege sind großzügig, mindestens so breit wie bei uns eine Autospur. Amsterdam, Malmö und London sagen übereinstimmend: Wenn du den Radverkehr entwickeln willst, geht das zulasten des Autoverkehrs – Städte haben nur begrenzt Platz. Du musst die Radinfrastruktur schaffen, eine Radkultur entwickeln, und das alles geht nicht von heute auf morgen. In Kopenhagen herrscht dazu Konsens, kein Parteienstreit, auch nicht zur klimaneutralen Hauptstadt.
Die Öresundbrücke verbindet Kopenhagen mit Malmö – Schwedens Radfahrer-Stadt. Was lässt sich von dort zu uns ins Land übertragen?
Interessant an der Öresundbrücke ist die besondere Art des ÖPP (öffentlich-private Partnerschaft). Stadt, Land und Region haben einen Fonds zur Finanzierung aufgelegt. Private Einlagen werden nur bescheiden verzinst, zurückgezahlt wird über die Mauteinnahmen der Brücke. Ich habe dieses Modell auch schon bei uns vorgeschlagen. Denn im Moment bekommt man Geld günstig. Und es ist ziemlich unklug, wenn der Staat in dieser Situation nicht Geld in die Hand nimmt, um seine Infrastruktur auf Vordermann zu bringen. Im Unterschied dazu sind unsere ÖPPs privat. Private Investoren haben aber Renditeinteressen und unterliegen anderen Kreditkonditionen – teuer für den Steuerzahler.
Die „grüne Stadt“ Amsterdam soll in Zukunft noch mehr als bisher von Fahrrädern, E-Bikes und Elektromobilen geprägt sein – wie fördern die Niederlande dieses Ziel finanziell?
Amsterdam ist bekannt für den Radverkehr, aber auch Pionierstadt der Elektromobilität. Dort hat man schon früh großzügig Elektromobilität gefördert, zum Beispiel jedes E-Taxi mit 45 000 Euro. Deshalb fahren in der Stadt unglaublich viele Tesla S als Taxi.
Was kostet so ein Fahrzeug?
Etwa 70 000 Euro. Ich will damit nur zeigen, mit welcher Großzügigkeit und Entschlossenheit die in diesen Bereich reingegangen sind. Seit 2013 wurden in den Niederlanden 20 000 E-Fahrzeuge neu zugelassen, im viel größeren Deutschland im selben Zeitraum nur 7600.
Woran liegt das?
Die Förderpolitik mit Kaufanreizen hat gewirkt. Es wurden konkrete Möglichkeiten gesucht, die Elektromobilität voranzubringen. So müssen dort alle Taxen, die vom Flughafen aus abfahren, elektrisch betrieben sein. Hintergedanke ist, dass sie vom Flughafen aus in der Regel längere Strecken zurücklegen und das extrem lukrativ ist. Die können sich deshalb auch einen teuren Tesla leisten. Eine solche Vorschrift würde man hier allerdings vermutlich kaum hinkriegen.
Was lässt sich sonst von dort abkupfern?
Es geht nicht ums Kopieren, es geht um Denkanstöße und Handlungsoptionen. Amsterdam macht im Innenbereich eine ziemlich restriktive Autopolitik. Dort gibt es eine durchgängige Parkraumbewirtschaftung. Parkraum ist knapp, weil es wegen der Lage im Wasser kaum Tiefgaragen gibt. Wenn man ein Elektroauto kauft, bekommt man einen Stellplatz und eine Ladestation. Alle anderen müssen für einen oberirdischen Platz eine Lizenz erwerben. Die kostet aber nicht, wie bisher in Stuttgart, 40 Euro pro Jahr, sondern 500 Euro. Und man bekommt die Lizenz auch nur, wenn ein Platz frei wird. Die Wartezeit liegt deshalb aktuell bei fünf Jahren. Den Leuten wird also regelrecht das Auto vergrault. Gängige Praxis ist deshalb, dass Autos vor den Toren der Stadt auf billigen Plätzen abgestellt und nur für Fahrten außerhalb der Stadt genutzt werden.
Also alle aufs Rad?
In Amsterdam sind es schon mehr als 40 Prozent. Aber auf den Radwegen zu fahren, habe ich dort als Stress empfunden. Zum Teil sind es Gegenverkehr-Radwege, und es sind einfach viele mit unterschiedlichem Tempo unterwegs. Und leider sind dort auch Motorroller zugelassen, das macht es ziemlich unruhig. An Kreuzungen muss man tierisch aufpassen, nicht auf Autos, sondern auf die anderen Radler. Und spektakulär ist die Parkplatznot der Radfahrer. Vor dem Bahnhof ist das erste Großparkhaus für Fahrräder mit 3000 Plätzen gebaut worden. Das reicht bei weitem nicht aus, deshalb ist noch ein unterirdisches Parkhaus unter einer Gracht mit 7000 Plätzen geplant. Und dann fehlen immer noch rund 4000 Rad-Parkplätze.
Muss man demnach nun auch noch den Radverkehr eindämmen?
Die Ansage an uns war: Wenn man Radverkehr fördert, explodiert das irgendwann einmal. Wenn ihr nicht rechtzeitig an Ladestationen, breite Wege und Parkplätze denkt, dann bekommt ihr Riesenprobleme. Unser Haupteindruck in Amsterdam war deshalb: Die Radinfrastruktur stößt an ihre Grenzen. Weniger Radverkehr ist aber auch nicht mehr vorstellbar, weil dann der Stadtverkehr nicht mehr funktioniert. Beeindruckend war, dass Amsterdam aufgrund der vielen Radler und Fußgänger viel leiser ist als andere Städte.
In Rotterdam ging es um die Schifffahrt. Wie kann in Baden-Württemberg das Schiff häufiger als Transportmittel nutzbar gemacht werden?
Der Hafen ist riesig, dreimal so groß wie der in Hamburg und 50 Kilometer lang. Die Stadt Rotterdam steuert die Entwicklung und hat den Anspruch, Zuliefer- und Abholverkehr in höherem Maße auf Schiene und Schiff zu bringen. Baden-Württemberg ist einer der großen Kunden dort. Und jeder Lkw, der bei uns losfährt, endet dort im Stau vor dem Hafen. Dort gibt es eine Selbstverpflichtung, dass von den Verkehrszuwächsen drei Viertel über Binnenschiff und Schiene abgewickelt werden.Die begrüßen unsere Verlagerungspolitik.
Welche Vorleistungen müssen Bund und Land bringen, um mehr Transportgüter von der Straße aufs Schiff zu bekommen?
Das Ganze steht und fällt mit der Sanierung und Verlängerung der Neckar-Schleusen. Die sind 80 Jahre alt und absolut sanierungsbedürftig. Das Land hat 2007 mit dem Bund vereinbart, dass die Schleusen bis 2025 saniert und verlängert werden. Jetzt will der Bund dies erst 2044 abschließen und die Schleusen maximal bis Heilbronn verlängern. Zudem ist der Ausbau des dritten und vierten Gleises im Rheintal für Güterverkehr unabdingbar.
Eine der größten Herausforderungen neuer Mobilitätskonzepte scheint die Verknüpfung der Systeme zu sein. Was haben Sie darüber in der 8,5-Millionen-Einwohner-Metropole London erfahren?
London ist ja berühmt für sein komplexes ÖPNV-System und seine besonderen Tickets. Die Oyster-Card ist eine Art Prepaid-Karte für alle Verkehrsmittel. Im Grunde sind aber Karte und System veraltet. Jetzt gibt es auf Kreditkarten einen Chip, der als Fahrkarte dient. Beim Einchecken muss man die Karte an einem Lesegerät berührungslos vorbeiführen. In Baden-Württemberg gibt es das bereits in Heilbronn und Hohenlohe. Bei der Karte, die jetzt in Stuttgart eingeführt wird, ist Voraussetzung, dass man Netzkartenbesitzer ist. Ein großer Unterschied zu unserer Situation ist auch, dass die Transport for London Authority – eine städtische Gesellschaft – für alle Verkehrsarten im Großraum London mit mehr als 13 Millionen Einwohnern zuständig ist. Alles ist in öffentlicher und in einer Hand.
In London besteht ja aber auch noch die Innenstadtmaut, die inzwischen auf zehn Pfund (rund 13,80 Euro) pro Tag angehoben wurde. Wie wirkt sich das aus?
Die sagen knüppelhart: Die Citymaut hat nur eine Funktion – Autos zu vertreiben. Und dann erzählen sie grinsend, es sei kein Zufall, dass alle Ampeln ständig auf Rot springen: Das ist pure Absicht! Nur, wenn ich mir das im Autoland erlauben würde als Verkehrsminister – ich würde vorgeführt und gelyncht. Doch dort war klar: Nur drastische Maßnahmen helfen – es hat ja niemand was davon, wenn alle stehen. Über die Citymaut wurden 30 Prozent Reduktion des Autoverkehrs erreicht. Allerdings musste die Zahl der Busse fast verdoppelt werden, und jetzt wird massiv auf Elektrobusse umgestellt. Es gibt neue Doppeldecker mit schönem Design. Die Tube ist an der Leistungsgrenze und kann nicht verlängert werden. Deshalb wird in den London Docks, dem Hafenareal, jetzt ein eigenes System aufgebaut, eine Hochbahn, die partiell aber auch unterirdisch fährt.
Spielt der Radverkehr in London eine Rolle?
Der Anteil ist bisher noch sehr bescheiden. Bürgermeister Boris Johnson hat jetzt ein ambitioniertes Programm aufgelegt für 913 Millionen Pfund (1,3 Milliarden Euro), unter anderem für den Bau von Europas längstem Radweg in Nord-Süd- und in Ost-West-Richtung – überwiegend vom übrigen Verkehr abgetrennt. Probleme gibt es bisher an den Docking-Stationen, weil oft keine Räder da sind. Das liegt daran, dass der Londoner eben nicht so viele Räder hat wie der Deutsche – die Deutschen sind Weltmeister im Radbesitzen, aber nicht im Radfahren.
Was ist die Quintessenz dieser Reise?
In den großen Städten Europas hat man überall das gleiche Problem: Wie sichert man die Mobilität und die Lebensqualität? All diese Städte entwickeln sehr mutige Konzepte und haben Visionen – Klein-Klein ist passé.