Warum Integration in Baden-Württemberg funktioniert: „Hier wird man nicht ausgelacht, wenn man an den Nächsten denkt“, sagt der Oberbürgermeister von Schwäbisch Gmünd, Richard Arnold Foto: Leif Piechowski

In Stuttgart leben 250 000 Menschen mit ausländischen Wurzeln – 42,2 Prozent aller Einwohner. Dennoch ist die Pegida-Welle, die von Dresden über die Republik geschwappt ist, noch nicht in Baden-Württemberg angekommen. Warum klappt das Miteinander im Südwesten besser?

Stuttgart/Schwäbisch Gmünd - In der Landeshauptstadt leben 19 124 Türken, 13 811 Griechen, 13 647 Italiener, 12 919 Kroaten und weitere Tausende Bürger mit dem Pass eines fremden Landes. 139 865 Ausländer aus 172 Nationen sind in Stuttgart zu Hause. Kaum eine Sprache, die in der Stadt am Neckar nicht gesprochen wird. Hinzu kommen weitere 110 403 Deutsche mit einem Migrationshintergrund.

Ein guter Nährboden, um auch hier eine Demonstration gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ loszutreten, möchte man meinen. Doch weit gefehlt. Hier gibt es keinen Pegida-Ableger, sondern ausschließlich Anti-Pegida-Demonstrationen. Vorbeugend sozusagen. Obwohl in kaum einer deutschen Großstadt mehr Migranten leben. Oder gerade deshalb?

"Habe mich hier von Anfang an wohlgefühlt“

„Ich bin in Stuttgart aufgewachsen und habe mich hier von Anfang an wohlgefühlt“, sagt Dzana Besic. „Schon in der Schule waren wir multikulti“, erinnert sich die 27-jährige Bosnierin, die im Stuttgarter Osten lebt. „Ich glaube, wenn man zusammen aufwächst, macht das viel aus im Vergleich zu anderen Städten, in denen es das so nicht gibt.“

Ähnlich fällt die Erklärung von Gari Pavkovic, dem Leiter der Abteilung für Integration bei der Stadt Stuttgart, dafür aus, warum es in der Landeshauptstadt bisher noch keine Nachahmungsversuche der Pegida-Proteste gab. „In Stuttgart gibt es im Alltag ganz viele normale Kontakte zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen: am Arbeitsplatz, der Handwerker, der kommt, im Sportverein, im Fußballstadion“, sagtPavkovic. „Man erlebt den Alltag zusammen. Das heißt, man kennt sich, und es gibt keinen Raum für konstruierte Ängste vor Überfremdung oder vor einer Islamisierung.“

Es scheint, als ob die jahrzehntelange Integrationsarbeit Früchte trägt. Seit 2001 hat Stuttgart einen eigenen Integrationsbeauftragten. Der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Schuster siedelte die Integrationsabteilung damals direkt in seinem Stab und damit in der Verwaltungsspitze an. Schuster machte die Integrationsarbeit zur Chefsache – und beschloss, die Ausländer in seiner Stadt abzuschaffen. Auf seine ganz eigene Art. Der CDU-Politiker stellte klar: „Jeder, der in Stuttgart lebt, ist ein Stuttgarter.“

In der Folge löste er das Amt des Ausländerbeauftragten auf – das man ja nicht mehr braucht, wenn es keine Ausländer mehr gibt – und schmiedete stattdessen ein „Bündnis für Integration“. Ein überparteiliches Netzwerk, in dem sich Bürgerinitiativen, Migrantenvereine, Stiftungen, Stadt und Land gemeinsam für Bildung starkmachen. „Ich wollte, dass die Migranten Teil der Stadtgesellschaft werden“, sagt Schuster den Stuttgarter Nachrichten.

Lieber Taten statt großer Worte

Dieses Ansinnen verfolgt auch Oberbürgermeister Richard Arnold für seine Stadt Schwäbisch Gmünd. „Ich sehe uns als große, bunte Stadtgemeinschaft, das heißt, dass man zusammen lebt, arbeitet, wohnt, liebt, weint, dass man sich umeinander kümmert.“ Eine Stadt lebe vom Bürgersinn, sagt der CDU-Politiker und sieht seine Aufgabe darin, diesen, so gut es geht, zu fördern. Es gehe nicht um große Worte, sondern um Taten, betont er.

Deshalb habe er beim Neujahrsempfang am vergangenen Sonntag vor rund 1100 Bürgern eindringlich für seinen Wunsch für 2015 geworben: „Jeder soll auf den Nächsten zugehen, ganz bewusst: Jeder sollte eine halbe Stunde in der Woche mit einem Flüchtling, einem Hartz-IV-Empfänger oder mit jemandem, dem die Arbeitslosigkeit droht, verbringen. Eine halbe Stunde in der Woche sich einem Menschen widmen, dem es nicht so gut geht – und da gehören Flüchtlinge definitiv dazu. Dann wird einem auch die Angst genommen.“

Es sei in Baden-Württemberg eine ausgeprägte Eigenschaft, dass man Anteil nimmt. Dass einem diese Schicksale der anderen nicht gleichgültig sind. Oder wie es Arnold ausdrückt: „Dass einem Worte wie Barmherzigkeit oder Nächstenliebe nicht fremd sind und nichts ist,was nur an Weihnachten beschrieben und betont wird, sondern etwas ist, was bei uns gelebt wird. Wir machen uns ein Gewissen“, sagt der Gmünder Rathauschef. „Hier wird man nicht ausgelacht, wenn man an den Nächsten denkt.“

Schwäbisch Gmünd ist wie Stuttgart eine wohlhabende Stadt: Große Arbeitgeber wie Weleda, Barmer GEK, ZF-Lenksysteme hier, Aushängeschilder der deutschen Industrie wie Daimler, Porsche, Bosch in der Landeshauptstadt. Die Wirtschaft sucht händeringend Fachkräfte, die Arbeitslosenquote ist niedrig. „Der Grund, warum die Integration so gut ist, ist, dass die Wirtschaft hier in der Region so stark ist“, sagt Dimitrios Arvanitopoulos. „Wer Arbeit hat, integriert sich fast automatisch“, ist der 22-jährige Deutsch-Grieche aus Stuttgart-Vaihingen überzeugt. Fremdenhass oder Ausgrenzung habe er nie erlebt.

Selbstverständlich mache das gute wirtschaftliche Umfeld das Gelingen der Integrationspolitik einfacher, sagt der frühere Oberbürgermeister Schuster. Zugleich hätten aber alle Investitionen der Stadt für die Integration auch zu einer größeren wirtschaftlichen Stärke der Region geführt, was wiederum neue Arbeitsplätze nach sich ziehe. „So gesehen haben wir eine Win-win-Situation geschaffen“, sagt Schuster.

Wer schafft, der gehört dazu

Pavkovic sieht einen Grund für das gedeihliche Zusammenleben derweil auch in der protestantischen Leistungsethik, die sich Deutsche wie Migranten gleichermaßen zu eigen gemacht hätten: „Wer schafft, der gehört dazu.“

Dzana Besic betont dabei, dass Integration keine Einbahnstraße ist, sondern eine gute Portion Eigeninitiative erfordere. „Man muss sich selber um eine gute Bildung und die Aufnahme in die Gesellschaft kümmern. Sonst klappt es nicht“, sagt die Bankangestellte mit bosnischen Wurzeln. „Dabei hilft einem die Stadt nicht.“

Obwohl Stuttgart jede Menge für die Migranten tut. Längst gilt die Landeshauptstadt als Vorreiter kommunaler Integrationspolitik: Das Bündnis für Integration diente dem Europarat als Vorlage für einen Integrationsleitfaden; als der Bund seinen nationalen Integrationsplan entwickelte, war der Rat der Stuttgarter ebenso gefragt. Die Unesco zeichnete die Stadt 2004 mit dem „Cities for Peace“-Anerkennungspreis aus.

Bei der Kindererziehung fängt es an

Entscheidend für die Integration sei der Kopf, sagt Halil Özcelik. „Und das fängt bei der Erziehung der Kinder an“, sagt der 43 Jahre alte gebürtige Türke aus Bad Cannstatt. „ Wenn Eltern ihre Kinder miteinander spielen lassen, ohne etwas zu sagen, ist die Nationalität egal. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen hier in Stuttgart offen sind. Sowohl die Deutschen als auch die Migranten. Und dann funktioniert das Zusammenleben auch.“

Wer verstehen will, wie Integrationsarbeit in Stuttgart funktioniert, muss das Haus 49 im Nordbahnhofviertel besuchen. „Wir wollen ausländischen Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass es eine Stärke sein kann, zwei Kulturen hinter sich zu haben“, sagt Gökay Sofuoglu, der seit vielen Jahren im Haus 49 arbeitet, die Einrichtung auch lange Zeit geleitet hat. Sie ist nicht nur Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, sondern genauso für deren Eltern.

Das zentrale Hemmnis für eine gelungene Integration sei aber die Sprache, heißt es im Haus 49. Wo Eltern der zweiten und dritten Ausländergeneration weder die eigene noch die deutsche Sprache richtig beherrschen, leidet auch der Spracherwerb der Kinder. Für die Schüler gibt es Hausaufgabenhilfen, Mittagessen, diverse Projektgruppen und Veranstaltungen. Auch die Eltern erhalten Sprach- und Integrationskurse.

Vor mehr als 30 Jahren haben ein paar Eltern der Grund- und Hauptschule Rosensteinschule angefangen, Lernhilfe für Schüler zu geben. Heute haben sie ein eigenes Haus und mehrere hauptamtliche Mitarbeiter. Getragen wird das Haus 49 neben der Caritas bis heute von engagierten Bürgern, die von der Politik nach Kräften unterstützt werden, und vor allem von Migranten, die selbst für Integration sorgen.

"Muslime fühlen sich ihren Kommunen zugehörig"

So wie Sofuoglu, der zugleich Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland und in Baden-Württemberg ist. Dass es in Stuttgart bisher keine Pegida-ähnliche Bewegung gibt, führt er vor allem darauf zurück, dass man das Thema Migration und Islam hier seit Jahrzehnten parteiübergreifend vorantreibe, es ernst nehme und sich aktiv um die Zuwanderer kümmere.

„Es gibt in Stuttgart und in Baden-Württemberg sehr viel Dialog. Die Muslime fühlen sich ihren Kommunen zugehörig“, sagt Sofuoglu. Auch gebe es hierzulande keine Ghettos wie etwa in nordrhein-westfälischen Städten oder in Berlin. „Der jeweils andere ist hier nicht fremd“, sagt der 52-Jährige. „Deshalb können die Menschen Informationen differenzierter wahrnehmen und lassen sich nicht so schnell von den Pegida-Parolen mitreißen.“

Keine diffuse Angst also voreinander. Damit das so bleibt, soll man sich frühzeitig kennenlernen. Flüchtlinge, die neu in der Stadt sind, haben im Willkommens-Center eine erste Anlaufstelle. Mindestens genauso wichtig: Sprachkurse und Hausaufgabenhilfe in Stadtteilen mit hohen Migrationsanteilen. Denn wer die gleiche Sprache spricht, fühlt sich nicht mehr fremd. Integration wird in Stuttgart nicht als Kostenfaktor oder Kriminalprävention gesehen. Es geht darum, kein Talent zu verlieren.

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