Unsere Autorin Lucia Hoffmann an der U-Bahn-Haltestelle Schlossplatz Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Ist es okay, sich von einer blinden Frau mit „Auf Wiedersehen“ zu verabschieden? Oder wie bietet man einem Mann im Rollstuhl Unterstützung an, ohne aufdringlich zu sein? Wir geben Tipps für einen unbeschwerten Umgang miteinander.

Stuttgart - Nichtbehinderte Menschen sind im Umgang mit Menschen mit Behinderungen oftmals selbst blind, taub und unbeholfen. Sie reduzieren ihr Gegenüber allein auf dessen Beeinträchtigung. Plumpe Neugier, bestürztes Mitleid und bevormundende Hilfsbereitschaft sind oftmals die Folgen. Was vielleicht gut gemeint war, empfinden Betroffene oft als verletzend oder diskriminierend. Was also tun?

Menschen mit Behinderung leben mitten unter uns! In Deutschland lebten Ende 2013 rund 7,5 Millionen schwerbehinderte Menschen. Bei der Mikrozensuszählung 2009 kam heraus, dass hierzulande 11,7 Prozent der Menschen eine Behinderung haben. Obwohl es so viele Menschen mit Einschränkungen gibt, sind dennoch viele nicht behinderte Menschen unsicher und zurückhaltend im Umgang mit den Mitbürgern mit einem Handicap.

Sie fragen sich beispielsweise: „Darf ich einem Blinden auf Wiedersehen sagen oder eine Rollstuhlfahrerin fragen, ob sie mit mir spazieren gehen möchte?“ Die Antwort ist klar: „Ja, selbstverständlich.“ Zwei Blinde verabschieden sich an der Bushaltestelle auch nicht mit „Auf Wiederhören“, und wenn ein Kollege im Rollstuhl sich in der Cafeteria einen Kaffee holt, sagt er auch nicht: „Ich fahre mir gerade einen Kaffee holen.“

Behinderung ist nur ein Merkmal von vielen

In erster Linie gilt: Menschen mit Behinderung sind Menschen wie du und ich. Sie haben eben eine Behinderung, aber sie sind genauso Nachbar, Kollege, Fußballfan oder beste Freundin.

Dies erläutert auch Katja Lüke, selbst Rollstuhlfahrerin, vom „Paritätischen Hessen“. Sie hat zusammen mit dem Deutschen Knigge-Rat zehn Tipps für den respektvollen Umgang mit Menschen mit Behinderungen erarbeitet. „Diese Tipps sind nur Anregungen und Empfehlungen. Es sind keine starren Regeln“, sagt Katja Lüke über ihre Handreichungen.„Viele Menschen mit Behinderung gehen offen mit ihrer Behinderung um. Zu einem möglichst unbefangenen Umgang miteinander kann es kommen, wenn Sie die Behinderung nur als ein Merkmal von vielen sehen“, so Lüke.

„Haben Sie den Mut, auch einmal etwas Falsches zu sagen, statt sich aus Angst zurückzuziehen“, wünschen sich die Gäste im Café Fröschle im Gemeindepsychiatrischen Zentrum Stuttgart-Birkach. Die Menschen mit psychischer Erkrankung, die das Café besuchen, plädieren für eine möglichst große Toleranz und Offenheit ihnen gegenüber: „Wir sind schließlich alle unterschiedlich. Es gibt weder den behinderten Menschen noch den Menschen mit psychischer Erkrankung, ebenso wenig, wie es den Menschen ohne Behinderung gibt. Verschiedenheit ist auch ein Stück Normalität!“

Ihr Rat an Verunsicherte: „Sehen Sie nicht nur das Trennende, das Andersartige – sehen Sie auch das Verbindende und die vielen Gemeinsamkeiten!“

Der schwierige Erstkontakt

Michael Waha ist Psychologe in Mannheim. „Am schwersten ist es für uns Nichtbehinderte, den ersten Kontakt mit einem Menschen mit Behinderung zu gestalten. Wenn dann erst einmal das Eis gebrochen ist, geht es leichter“, erklärt er. Es gebe viele Ängste aufseiten Nichtbehinderter, etwas falsch zu machen. Daraus resultiere oftmals eine plumpe Reaktion oder ein Vermeidungsverhalten seitens der Nichtbehinderten. „Das ist dann keine böse Absicht, sondern pure Unsicherheit“, sagt der Psychologe. Er rät, im Umgang mit Menschen mit Behinderung ganz natürlich zu sein.

Es sei auch sehr wichtig, auf deren Kompetenzen zu vertrauen. Die Menschen mit Behinderung wüssten meist sehr genau, was sie können und an welcher Stelle sie Hilfe benötigen. „Menschen mit Behinderung haben viel Erfahrung mit uns Nichtbehinderten und sind da meist viel sicherer im Kontakt als wir, weil sie Tag für Tag mit uns zu tun haben. Ich wünsche mir, dass Menschen mit Behinderung Nachsicht mit uns haben, wenn wir unsicher sind. Wir wollen niemanden verletzen“, erklärt Waha. „Oftmals hatten viele von uns noch nie mit einem Menschen mit Behinderung zu tun.“ Deshalb hofft Waha auf mehr Inklusion in der Gesellschaft.

Direkte Anrede

Ute Strittmatter ist Leiterin der „Netzwerkfrauen Bayern – Netzwerk von und für Frauen und Mädchen mit Behinderungen in Bayern“. Sie erklärt: „Oftmals werden die Begleiter oder Assistenten als Erstes angesprochen.“ Das passiert Menschen mit Behinderungen oft, selbst wenn sie eine konkrete Frage gestellt oder ein Anliegen formuliert haben.

Sie empfiehlt: „Es ist wichtig, direkt mit dem Menschen mit Behinderung zu reden.“ Die Sozialpädagogin möchte den Menschen ohne Behinderungen auch die Ängste vor dem ersten Kontakt nehmen: „Sprechen Sie mit uns, nicht über uns. Dann lässt sich vieles einfach im Gespräch klären.“

Akzeptanz der Erkrankung

Antonia Peters hatte Trichotillomanie. Menschen, die von Trichotillomanie betroffen sind, reißen sich zwanghaft ihre Haare aus. Das ist eine Form einer Zwangsstörung, also einer psychischen Erkrankung.

„Ich konnte nichts dafür, dass ich mir meine Haare ausriss. Ich musste es einfach tun. Es war ein Zwang“, erklärt die 56-Jährige. Antonia Peters ist Vorsitzende im Vorstand der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V. in Hamburg. Von einer Zwangsstörung sind ein bis zwei Prozent der Bevölkerung in Deutschland betroffen.

„Viele Menschen wissen gar nicht, was eine Zwangsstörung ist. Sie wissen gar nicht, dass es so etwas gibt“, sagt Antonia Peters. „Das sorgt natürlich für eine große Unsicherheit gegenüber Betroffenen. Zu Zwangsstörungen zählen Experten zum Beispiel Wasch-, Zähl- oder Kontrollzwänge. Aber auch zwanghafte Gedanken, bestimmte Vorstellungen immer wieder denken zu müssen, oder die zwanghafte Sorge, mit einer Krankheit infiziert zu werden, können Ausdruck dieser Erkrankung sein“, erklärt Antonia Peters.

„Viele Betroffene schämen sich sehr für ihre Gedanken und Handlungen. Weil fast niemand über diese Erkrankung spricht, ist bis heute so wenig, viel zu wenig, über Zwänge in der Gesellschaft bekannt. Wir wollen vor allem akzeptiert werden“, erläutert sie. Das setzt aber auch die Akzeptanz der eigenen Erkrankung voraus: „Wie sollen uns denn Nichtbetroffene akzeptieren, wenn wir selbst unsere Erkrankung noch nicht annehmen können!“. Dank einer guten Verhaltenstherapie hat die 56-Jährige heute keine Zwänge mehr.

Stotternde Menschen ausreden lassen

Solche Situationen erlebt Anja Frey oft. Anja Frey leitet in Stuttgart eine Selbsthilfegruppe für stotternde Menschen. „Ich möchte als stotternde Frau trotzdem ausreden. Das fühlt sich sonst nicht richtig an, wenn das Gegenüber das Wort für mich sagt. Das erleben viele stotternde Menschen so“, sagt sie. „Wir brauchen manchmal ein bisschen mehr Zeit.Unsere Behinderung ist nicht offensichtlich.“ Das erzeuge manchmal Unsicherheiten beim Gegenüber. „Die Menschen wissen nicht, wie sie mit uns umgehen sollen.“

Sie wünscht sich, ausreden zu dürfen. Es sei wichtig, stotternden Menschen genauso zuzuhören wie Nichtbehinderten: „Schwierig finde ich, wenn mir Hilfe aufgedrängt wird. Es ist mir lieber, wenn ich das Wort rausstottern kann. Das baut auch Stress ab. Bei mir und im Endeffekt auch bei dem Gegenüber.“ Ganz wichtig: „Wenn ein Mensch mit Behinderung keine Hilfe benötigt oder keine Hilfe möchte, nehmen Sie es nicht persönlich. Es ist wichtig, den Menschen mit Behinderung zu respektieren in dem, was er möchte, aber auch in dem, was er nicht möchte.“

Aufrichtigkeit auf beiden Seiten ist das A und O für ein gutes Miteinander. Nina Grote ist Verwaltungsmitarbeiterin an der Technischen Universität München. Wenn sie weiß, was der Mensch mit Behinderung möchte, hilft ihr das im Kontakt weiter. „Eine klare Ansage ist wichtig. Das nimmt dann auch mir die Unsicherheit, ob ich mit der Situation richtig umgehe“, sagt Nina Grote. Akzeptanz – auch der eigenen Behinderung – ist wichtig.

An diesem Donnerstag ist Welttag des Stotterns. Informationen gibt es im Internet unter www.bvss.de und unter www.stottern-stuttgart.de. Blindenhunde nicht stören

Rita Schroll ist Leiterin des hessischen Koordinationsbüros für behinderte Frauen und stellvertretende Referentin für Führhundangelegenheiten im Blinden- und Sehbehindertenbund Hessen e. V. Sie ist blind und hat seit 2004 eine Führhündin.

Wenn sie an der Haltestelle stehe, werde oft ihr Hund einfach angesprochen oder gestreichelt. „Das ist sehr nett gemeint, aber für den Hund ist es sehr verwirrend. Wenn ein Blindenführhund im Geschirr ist, ist er bei der Arbeit!“, erklärt Rita Schroll. Dann solle man den Hund weder ansprechen noch streicheln. Dies lenke das konzentrierte Tier von seiner Arbeit ab und könne so zu Schwierigkeiten oder gar Gefahren führen. „Wichtig ist: Reden Sie mit der Führhundhalterin, nicht mit dem Tier!“

Wenn Political Correctness zur Barriere wird

Markus Riedl ist Redakteur bei den Stuttgarter Nachrichten. Er möchte der Rollstuhlfahrerin gern helfen – doch er fragt sich, wenn er ihr helfen würde, ob diese sich dann vielleicht in ihrer Selbstständigkeit und Mündigkeit übergangen fühle.

Er wünscht sich mehr Normalität in der Gesellschaft! Normalität vor allem zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen. „So normal wie ich einem Nichtbehinderten helfen würde, würde ich auch gerne einem Menschen mit Behinderung einfach helfen.“ Er möchte sich keine Gedanken machen müssen, ob er dann alles richtig macht und ob seine Handlungen und seine Wortwahl „politisch korrekt“ sind. „Das schafft eher Distanz in der Begegnung und im Alltag.“ Die Frage, welche Reaktion „politisch korrekt“ wäre – zu helfen oder besser nicht – wird hier zur Barriere, findet Markus Riedl.

Aufklärung von klein auf

Sebastian Fuchs ist körper- und sehbehindert und arbeitet in der Verwaltung des Körperbehindertenvereins Stuttgart e. V. . Der 29-Jährige ist „Fußgänger“ – sitzt also nicht im Rollstuhl, hat aber eine Spastik. Deswegen geht er oftmals etwas wackelig. In fremder Umgebung benutzt er teilweise einen Blindenlangstock, vor allem um sich zu kennzeichnen.

Oft erlebt der junge Mann, dass Kinder ihre Eltern auf seine Behinderung ansprechen. Die Eltern seien dann oftmals peinlich berührt und zögen ihre Kinder schnell weg, erzählt Fuchs. Manchmal sagten die Eltern auch etwas wie: „Komm schnell weiter“ oder „Schau da nicht hin“. „Da würde ich mir mehr Offenheit von den Eltern wünschen, zum Beispiel, dass sie ihren Kindern etwas über Menschen mit Behinderungen erklären oder mich fragen und nicht die Kinder wegziehen. Kinder sind wissbegierig, außerdem sind sie meistens sehr unkompliziert und unbefangen. Sie fragen einfach drauflos und haben viel weniger Scheu als die Erwachsenen.“

Wenn Kinder von klein auf mit Menschen mit Behinderungen zu tun hätten, fiele ihnen auch später als Erwachsene der Umgang mit ihnen viel leichter, erklärt Sebastian Fuchs. „Das wäre dann Inklusion!“