Diese Treppe läuft der siebenjährige Henry auf den Händen hoch und runter, seit sein Hort vom Erd- ins Obergeschoss gezogen ist. Sein Rollstuhl wird ihm getragen Foto: Martin Braun

Nach dem Umzug seines Horts ins Obergeschoss muss ein Siebenjähriger auf seinen Händen die Treppe nach oben kommen. Die Eltern sind eigentlich mit der Kita sehr zufrieden, doch dieser Umstand ist für sie nicht tragbar.

Zuffenhausen - Als Mandy und Marcel P. vor drei Jahren nach Zuffenhausen gezogen sind, waren sie glücklich, ihren Sohn gut versorgt zu wissen. Henry sitzt im Rollstuhl, die Frühförderstelle des Stuttgarter Jugendamts hatte für ihn einen Platz im Kindergarten im Dr.-Herbert-Czaja-Weg vorgeschlagen. Dort gefiel es ihm sehr gut, „er hat sich spitzenmäßig entwickelt“, erzählt seine Mutter. Auch in Waiblingen, wo die Familie zuvor gewohnt hatte, war Henry in einer Kita. „Aber während hier in Stuttgart immer geschaut wurde, was Henry braucht, war in Waiblingen immer die erste Frage, was es kostet“, berichtet Marcel P. Die Leute dort hätten sich Mühe gegeben, aber zum ersten Mal ein rollstuhlfahrendes Kind betreut.

Im Dr.-Herbert-Czaja-Weg hingegen wird Inklusion schon lange gelebt, sagt Katrin Gabel. Sie leitet die Kita, zu der der Hort gehört. Eigentlich wollte sich Henrys Mutter nach seiner Einschulung nachmittags selbst um ihren Sohn kümmern – aber Henry hatte andere Pläne: „Er hat gesagt, dass er in den Hort will, weil seine Freunde dahin gehen.“ Zunächst läuft alles reibungslos. Der Hort ist ebenerdig gelegen und mit einer barrierefreien Toilette ausgestattet. Dass er im Rollstuhl sitzt, sei für die anderen Kinder ganz selbstverständlich, erzählt Katrin Gabel: Er spiele mit ihnen draußen Räuber und Gendarm, auf einem ausrangierten Rollstuhl würden sie Rennen gegen ihn fahren.

Ohne Aufzug wird der Weg nach oben zur Hürde

Henrys Start ins Schulleben indes gestaltete sich etwas holpriger: Sein Klassenzimmer an der Uhlandschule war im ersten Stock, der Aufzug ständig außer Betrieb, erzählen seine Eltern. Zunächst habe ihn eine Inklusionskraft immer die Treppe rauf- und runtergetragen. Um das zu vermeiden, sei seine Klasse zum zweiten Schulhalbjahr ins Erdgeschoss gezogen. Mittlerweile funktioniere der Aufzug wieder, wurde den Eltern berichtet. Dafür Henry seit Oktober vergangenen Jahres in seinem Hort mit einem ähnlichen Problem zu kämpfen: Nachdem der Hort vom Erd- ins Obergeschoss umgezogen ist, muss er die Treppe auf den Händen hoch- und runtergehen – einen Aufzug gibt es dort nicht.

Wie Katrin Gabel erklärt, war der Umzug nötig geworden, weil die Räume im Erdgeschoss für die Unterdreijährigen benötigt wurden. Wegen des Brandschutzes sei eine Kleinkindbetreuung im Obergeschoss ausgeschlossen und deswegen der Hort dort untergebracht worden, sagt Heinrich Korn. Im Zuge der Umbauarbeiten sollte eigentlich ein Treppenlift für Henry installiert werden, so der stellvertretende Leiter des Stuttgarter Jugendamts weiter. Allerdings habe die Statik des ursprünglich als Provisorium angeschafften Gebäudes diese Pläne durchkreuzt.

Auch wenn sie verstehen könne, dass der Umzug notwendig war, und obwohl Henry sich in der Kita eigentlich sehr wohl fühle, ist der momentane Zustand für Henrys Mutter unhaltbar: „Was lernt er denn gerade hier? Dass er ein Problem ist. Außerdem tätscheln ihm die Kleinen auf der Treppe den Kopf, die Größeren treten ihm auf die Hände – für mich ist das menschenunwürdig.“

Ein Wechsel der Kita schien die einzige Lösung zu sein

Henry ist nicht das einzige Kind mit Inklusionsbegleitung in der Kita im Dr.-Herbert-Czaja-Weg, aber als einziger von dem Problem betroffen. „Wir wünschen uns, dass er in seiner vertrauten Umgebung und bei seinen Freunden bleiben kann“, sagt Katrin Gabel. Sie betont, dass sich das ganze Team und auch das Amt um eine Lösung bemüht hätten. „Dieses eine Kind trifft es unverhältnismäßig hart“, bedauert Heinrich Korn. Das sei auch für das Jugendamt kein befriedigender Zustand: „Wenn es eine Lösung gäbe, würden wir das machen, das ist keine Frage des Geldes.“

„Letzten Endes entscheiden immer die Ämter für Henry“, sagt Mandy P. Sie und ihr Mann ärgern sich vor allem darüber, wie sie über das Problem informiert wurden. So habe man ihnen zunächst gesagt, dass Henry nur für ein paar Wochen die Treppe hochkrabbeln muss. Dass dies dauerhaft so bleibe, hätten sie erst erfahren, nachdem Henrys Vater sich per Gelber Karte auf dem Rathaus beschwert hatte.

Dabei sind Henrys Eltern mit der Kita eigentlich sehr zufrieden, seine Geschwister gehen mittlerweile auch dort hin – und werden dies auch weiterhin tun. „Die Leute hier geben uns nicht das Gefühl, dass wir uns was anderes suchen sollen“, sagt Marcel P. Und seine Frau ergänzt: „Wenn es nach Henry gehen würde, würde er wohl auch hier bleiben.“ Seine Eltern aber wollen ihm die Treppe nicht noch drei Jahre zumuten. Sie haben ihn im neu eröffneten Kinderhaus an der Uhlandschule angemeldet – in der Hoffnung, dass der Aufzug dort in Zukunft zuverlässig funktioniert.

Kommentar

„Der Weg ist schwer zu ebnen“ von Martin Braun

Der Fall des siebenjährigen Henry macht deutlich, dass hinter allen Statistiken, Konzepten und Härtefällen letzten Endes immer auch das Schicksal eines Menschen steht. Und auch, dass behinderte Menschen eben immer wieder auf Hürden, Hindernisse und Widrigkeiten stoßen, die sie in ihrem Alltag behindern. Insofern ist der Ärger der Eltern verständlich. Auch wenn man dem Jugendamt glauben mag, dass alles versucht wurde, dem Jungen einen barrierefreien Hortbesuch zu ermöglichen. In diesem Fall sind es die Statik und der Brandschutz, die der Inklusion Grenzen setzen. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern.

Sehr wohl zu ändern ist aber die Haltung, mit der dem Thema Inklusion mitunter begegnet wird. Inklusion ist ein Menschenrecht – für das man auch in Deutschland noch kämpfen muss. Wie die Stuttgarter Behindertenbeauftragte Ursula Marx berichtet, passiert es immer wieder, dass Umbauten nicht barrierefrei gemacht werden. Das liegt gewiss nicht immer an der Statik und am Brandschutz, sondern häufig genug dürften daran Gedankenlosigkeit, Ignoranz oder Sparzwänge schuld sein.