Der StN-Sportschuh ist schnell konfiguriert Foto: Screenshot

Personalisierbare Produkte sind die Zukunft, sagt Marketingexperte Dominik Walcher. Bis 2030 könnten bis zu 50 Prozent aller Kleidungsstücke vom Kunden selbst gestaltet werden.

Stuttgart - Herr Walcher, im Einzelhandel werden immer mehr personalisierbare Produkte angeboten. Warum kommen sie so gut an?
Der Erfolg dieser Produkte lässt sich mit der Grundformel FFF aus der Konsumentenverhaltensforschung begründen: Form-Fit-Function. Das erste F, Form, bezieht sich auf das äußere Erscheinungsbild eines Produkts, auf seine Ästhetik. Sie muss mir nicht nur gefallen, sondern mich auch von anderen abgrenzen. Gestalte ich zum Beispiel das Dach meines Cabrios selbst, kann ich Einzigartigkeit demonstrieren und damit gleichzeitig andere beeindrucken. Der soziale Aspekt ist beim ersten F sehr wichtig.
Wofür stehen die beiden folgenden F?
Fit bedeutet, dass das Produkt genau zum Käufer passen muss – bei Kleidungsstücken muss die Größe stimmen, bei Lebensmitteln der persönliche Geschmack. Function heißt, dass ich als Konsument nur das bekomme, was ich wirklich brauche. Und auch nur dafür zahlen muss.
Heißt das, es gibt keine Zielgruppen mehr, weil potenziell jeder angesprochen wird?
Das kann man so sagen. Joseph Pine, einer der großen Theoretiker im Bereich Mass Customization (kundenindividuelle Massenproduktion), spricht inzwischen von „Markets of One“ – Märkte, in denen jeder Einzelne der Markt ist. In der digitalisierten Welt von heute ist die Zeit von Zielgruppen und Segmenten passé. Personalisierbare Produkte sind zielgruppenübergreifend. Eine automatische Selektion ergibt sich aber – wie etwa beim Thema Nachhaltigkeit – durch das Preisniveau: Öko-Pullover sind teurer als konventionell hergestellte Pullis.
Durch den E-Commerce wird die Produktion doch eigentlich günstiger für den Verkäufer.
Ja. Die Idee hinter den personalisierbaren Produkten ist, dass die Kosten nicht höher sein sollen als bei einem Standardprodukt. Das ist durch die Digitalisierung gegeben: Die Rüst- und die Transaktionskosten sind minimal. Konfiguratoren haben früher oft Tausende von Euro gekostet. Heute kann man sie im Internet kostenlos herunterladen.
War das Internet also eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung?
Auf jeden Fall. Diese Art der Interaktion zwischen Kunden und Käufern – auch in der Produktion – hätte es vor 20 Jahren noch nicht gegeben. Die Möglichkeit dazu war einfach nicht vorhanden.
Wurde das Konzept inzwischen auch auf den stationären Handel übertragen?
Das wurde es: In Berlin kann man in einem Adidas Conceptstore zum Beispiel eigene Schuhe designen. Bei Build-A-Bear kann man in verschiedenen Städten Deutschlands einen eigenen Teddybären kreieren. Indem das Einkaufen zum Erlebnis wird, wollen die Unternehmen ihre Läden aufwerten. Und neuen Untersuchungen zufolge sind die Konsumenten bereit, bei selbst gestalteten Produkten bis zu 50 Prozent mehr Geld auszugeben.
Für dasselbe Produkt mit eigenem Design?
Genau – weil sie das Produkt selbst gemacht haben. Das Erlebnis steht für den Käufer im Vordergrund. Dabei handelt es sich um den sogenannten Selbstgestaltungseffekt. Ein weiterer Faktor ist der „Stolz der Urheberschaft“: ähnlich wie bei einem Maler, der sein Bild nicht weiterverkaufen möchte, weil er einen Teil von sich selbst, seiner Identität, auf das Werk projiziert hat. Der symbolische Wert des Bildes ist dadurch sehr viel höher als der tatsächliche. So steigt auch bei einem personalisierten Produkt die Verbundenheit des Konsumenten, weil er damit seine eigene Persönlichkeit zum Ausdruck bringen will.
Und diese auch zur Schau stellen möchte?
Richtig. Ein selbst zusammengestelltes Müsli würde man nicht ins Regal stellen, sondern so positionieren, dass ein Besucher es sehen kann. Denn das Müsli zeigt ihm, wie besonders man selbst ist. Niemand möchte in einer uniformen Masse versinken. In der Psychologie nennt man dieses Phänomen das „Bedürfnis nach Einzigartigkeit“. Es kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein, prinzipiell hat es aber jeder.
Demnach ist kundenindividuelle Massenproduktion nicht nur ein vorübergehender Trend?
Mass Customization ist gar kein so neues Konzept. Manche Bereiche sind nur so sehr davon durchdrungen, dass man es gar nicht mehr wahrnimmt. In der Autobranche ist es schon lange möglich, die eigenen Wünsche mit einzubringen – Klimaanlage, CD-Player, Sitzheizung. Und beim Schneider wird die Kleidung seit jeher individuell angefertigt. Customization ist eine langsam wachsende Evolution, keine Revolution.
Die gerade jetzt allgegenwärtig ist.
Es ist so: Je mehr Freiheiten ein Mensch hat, umso mehr treten seine einzigartigen Bedürfnisse hervor. Saudi-Arabien ist vielleicht noch nicht so weit. Doch wir leben in einer fast alles erlaubenden Gesellschaft. Dass man das, was man einkauft, selbst mitgestalten kann, wird immer mehr zu einer Selbstverständlichkeit werden. US-amerikanische Experten schätzen, dass 2030 zwischen 30 und 50 Prozent aller Kleidungsstücke vom Käufer selbst designt werden. Bei einem Treffen der Autobranche sagte ein Hersteller kürzlich, dass sein Unternehmen 2013 nur zwei Autos hergestellt hat, die exakt gleich waren. Je mehr Möglichkeiten die Kunden bekommen, desto mehr werden sie genutzt.
Was bedeutet das für den Einzelhandel?
In Zukunft werden Unternehmen immer mehr Handelsformen betreiben. Der Kunde hat die Wahl: Er kann das Produkt vor Ort im Laden designen und sich zuschicken lassen, oder er personalisiert es von zu Hause aus, vom Sofa. Durch das Smartphone ist das theoretisch von überall möglich. Da tut sich gerade jede Menge.
Auch im Bereich der sozialen Medien?
Gerade dort. Meine Vermutung ist, dass Mass Customization immer mehr mit den sozialen Medien kombiniert werden wird. Wenn sich ein junges Mädchen im Laden ein Kleid designt, kann sie das Bild per Smartphone mit der Freundin teilen, die noch in der Schule ist. Und mit der, die gerade für einen Austausch in Amerika ist. Sie kann das Bild auf Facebook teilen und fragen, wie ihre Freunde das Kleid finden – und hat sofort 15 Rückmeldungen, mit denen sie das Kleid weiter anpassen kann. Abends schauen sie sich das Video dann gemeinsam im Internet an. Das Einkaufen wird viel interaktiver werden. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass bald Customization-Partys gefeiert werden. Vernetzung ist der neue Trend.
Wo liegen die Grenzen dieses Modells?
Man darf den Kunden nicht überfordern und es mit der Anzahl der Wahlmöglichkeiten nicht übertreiben. Wirkt das Angebot zu kompliziert, schreckt das den Käufer ab. Hinzu kommt das sogenannte „anticipated regret“, das antizipierte Bedauern. Dieses psychologische Konzept besagt, dass der Mensch bei zu viel Auswahl dazu neigt, nicht zufrieden mit seiner Entscheidung zu sein. Das merkt man oft schon im Restaurant: Wenn ich mich endlich für Pizza Nummer 20 entschieden und bestellt habe, bedauere ich schon, dass ich nicht die Nummer 22 gewählt habe. Da ist weniger oft mehr.