International wird der Untergang der Szenekultur in Berlin ausgerufen. Foto: dpa

Berlin hat eine neue Lieblingsdebatte: Ist die Hauptstadt noch immer angesagt oder auf dem absteigenden Ast?

Berlin - Vielleicht ist tatsächlich die Zahnpasta ein Zeichen dafür, dass Berlin vor die Hunde geht. Samstagnacht, ein junger Amerikaner steht vor dem Spiegel der Unisextoilette im mythenumwobenen Berghain, jenem Club, den die Fachpresse im Jahr 2009 noch als besten des Planeten adelte. Und was macht der Kerl? Zwischen all den schwitzenden halbnackten Männern und Frauen drückt er ganz artig auf die Zahnpastatube und beginnt mit vorbildhaften, kreisenden Bewegungen, sein Zahnfleisch zu massieren.

Schwer in Mode ist es derzeit, allerlei Zeichen dafür ins Feld zu führen, dass Berlin – einst hippste Stadt auf diesem Planeten – nicht mehr seine Vorreiterrolle als Party-Metropole innehat. Als ultimativen Gradmesser nimmt die Auslandspresse dafür gerne das Berghain in den Blick (es gibt Menschen, die behaupten, die gesamte Stadt wurde nur um diesen Club herum errichtet).

Das amerikanische Musikmagazin „Rolling Stone“ beobachtet zunehmend Touristen aus aller Welt im Berghain – und interpretiert das als untrügliches Zeichen für den Niedergang der Berliner Szenekultur. Ein Reporter der „New York Times“ wiederum will unlängst an einem Donnerstagmorgen ein überaus uncooles Lied im Berghain gehört haben – und nimmt diese Beobachtung zum Anlass für einen Nachruf auf die gesamte Stadt. Warum also nicht auch die Zahnpasta in dieses Zeichen- und Deutungssystem einbinden? Die Zahnpasta, wenn man so will, bringt etwas wie Ordnung und Routine ins Berghain, dem einstigen „Reich des Wahnsinns“ („Süddeutsche Zeitung Magazin“).

Da braut sich etwas zusammen am Himmel über Berlin, unheilvolle Zeichen, die vom schleichenden Verfall der Szenestadt künden. So sehen es die Untergangsexperten der Trendmagazine und -blogs. Auf die Brachflächen der Nachwendezeit, auf denen sich irre Künstler einnisteten und auf deren Boden legendäre Clubs entstanden, stanzen Investoren nun Geschäftsgebäude mit breiten Glasfronten. Wer durch die neue Wohngegend am Auswärtigen Amt in Mitte spaziert, ahnt, warum die „New York Times“ vom „Brooklyn an der Spree“ schreibt.

In Berlin, so die „NYT“, schreite die Gentrifizierung, also die Verdrängung eingesessener Bevölkerungsgruppen durch wohlhabende Neulinge, genauso schnell voran wie in dem New Yorker Stadtbezirk Brooklyn. Das lässt sich an einem Samstagmorgen beobachten, anhand einer Szene wie aus der US-Serie „Desperate Housewives“: Luxuswohnungen, teure Restaurants, Geländewagen. Ein ungefähr sechsjähriges Mädchen tritt aus der Haustür. „Papa, Papa! Nehmen wir den Audi oder den Land Rover“, ruft es seinem Vater zu. Wochenendausflug. Heute mal im Land Rover.

Symbolhaft für die „Brooklynisierung“ Berlins steht das Kunst- und Veranstaltungszentrum Tacheles in Mitte, dessen verwitterter Charme Künstler und Kunstinteressierte seit dem Mauerfall anzog. Die Künstler mussten das Gelände räumen, weil der auf Luxusimmobilien spezialisierte Besitzer das letzte große Premium-Grundstück im Zentrum verkaufen will. Hier sollen nun Gewerbe und Wohnungen entstehen. Viele der Künstler drängte das an den Stadtrand.

Andererseits reißen immer noch einige Brachflächen Freiräume ins Stadtbild, die Künstler und Sinnsuchende mit ihren Träumen füllen. Auf einem Areal an der Cuvrystraße in Kreuzberg protestierten vor gut anderthalb Jahren Aktivisten gegen den Bau des Guggenheim Labs, das von BMW gesponsert als Symbol für die Gentrifizierung stand. Auf der verwilderten „Cuvrybrache“, ungefähr so groß wie ein Fußballfeld, leben nun Aussteiger und Obdachlose.

Neuerdings bauen die Bewohner die Wellblechhütten bereits zweistöckig. Die „Cuvrybrache“ erinnert an eine Mischung aus Woodstock und Sozialbau. Mitten im linken Kreuzberg ist so etwas entstanden, was es in Deutschland bisher nicht gab: die erste informelle Siedlung der Republik. Über das Gelände schallen Hammerschläge, ständig stampfen die Bewohner neue Häuser aus dem Boden. Alte Zelte werden abgerissen, neue aufgeschlagen.

Vergehen und Entstehen, so läuft es auch in der Partyszene. Der Dachverband der Clubs sieht die jüngste Debatte um die Hauptstadt gelassen. „Nach wie vor bekommen Menschen im Ausland glänzende Augen, wenn sie Berlin hören“, sagt der Sprecher der Club Commission, Lutz Leichsenring. „Allerdings bemerken wir auch eine Zunahme von ‚Mainstream-Touristen‘, die nach Berlin kommen, weil es andere vorgemacht haben.“ Das Ausgehverhalten hat sich aus seiner Sicht nicht merklich verändert.

Der Techno-Pionier Dimitri Hegemann sieht Berlin immer noch als „riesigen Experimentier- und Therapieraum“, der magische Signale an die Jugend der Welt sendet. „Noch gibt es Freiräume. Die Sprache unter ihnen ist jetzt Englisch“, sagt der Gründer des Clubs Tresor. Die These, Berlin sei out, findet der 59-Jährige nicht schlecht. „Das schützt uns vor Trotteln.“

Im „Brooklyn an der Spree“-Text aus der „New York Times“ taucht eine Metapher für das internationale Berlin-Gefühl auf. Die Baukräne, die sich auf den zahlreichen Baustellen über der Stadt drehen, die arbeiten und arbeiten, während anderswo schon neue Lastwagen für die nächste Baustelle anfahren. Dass viele Baustellen scheinbar nie fertig werden, gleicht fast schon einer Kunstform. Berlin, das ist ein wenig Turmbau zu Babel, ein wenig Hybris und Hartz IV, Arroganz und Asylanträge, Louis Vuitton und Lidl. Und wenn da mal ein Amerikaner mehr ins Berghain kommt – ja und?