Wird er Vorsitzende des Linksbündnisses (Syriza), Alexis Tsipras, das Steuer in Athen übernehmen? Foto: AP

In Griechenland steht womöglich eine historische Wende bevor. Erstmals könnte eine Linksregierung an die Macht kommen. Die Konservativen wollen dies verhindern – die Sozialisten kämpfen ums politische Überleben.

Athen - Dimitris Efstathiadis, 53, Witwer, kantiges Gesicht, sonnengegerbte Haut, dicker Pullover, schlürft eine Suppe. Auch sein Sohn Kostas und seine Schwägerin Julia nehmen die Abendmahlzeit ein. Die Schwiegermutter setzt sich auch dazu.

Es ist kalt an diesem Abend in der kleinen Wohnung im Untergeschoss eines ansonsten unbewohnten Hauses im nordwestlichen Athener Arbeitervorort Ano Liosia. Und hier drinnen ist es fast dunkel. Nur drei Wachskerzen brennen auf dem kleinen Küchentisch. Das muss reichen.

Denn die Familie Efstathiadis hat kein Geld. Schon längst sieht sie sich außerstande, die Stromrechnung zu bezahlen. Der letzte Bescheid liegt für den Besucher auf dem Tisch – „Zu zahlen bis zum 13. Januar“. Doch auch diese Frist ist verstrichen.

Grundsicherung? Sie existiert in Griechenland nicht.

Dimitris Efstathiadis, von Beruf Bauarbeiter, bleibt keine andere Wahl. Er ist arbeitslos, sein Sohn noch Schüler, die Schwiegermutter Hausfrau. Nur Julia hat ein mageres Einkommen. Mit ihrem Minigehalt von 380 Euro pro Monat, das die 22-Jährige für ihre Arbeit in einem Friseurladen in der Nähe erhält, kommt die Familie kaum über die Runden. Und eine Grundsicherung? Sie existiert in Griechenland nicht.

So kam es, wie es kommen musste. Im Oktober seien zwei Männer der halbstaatlichen Elektrizitätsgesellschaft DEH angerückt, erzählt Dimitris. Erst seien sie auf den neun Meter hohen Strommast vor dem Haus der Familie gestiegen, erinnert er sich. Dann senkt er den Blick. Leise sagt er: „Kurzerhand haben sie die Stromleitung gekappt.“ Seither brennen nachts in der kleinen Wohnung in Ano Liosia die Kerzen.

Mehr als 300 000 Griechen ohne Strom

Die Familie Efstathiadis ist in Griechenland, dem Ursprungsland und Epizentrum der wiederaufflammenden Euro-Krise, kein Einzelfall. Im Gegenteil: Mehr als 300 000 der elf Millionen Griechen leben mittlerweile ohne Strom. „Gehst du am Sonntag wählen?“ Dimitris Efstathiadis nickt. „Und wem gibst du deine Stimme? Seine lapidare Antwort: „Syriza. Wir wollen einen Wechsel sehen.“

So denkt derweil das Gros der Griechen. Im Endspurt vor den wegweisenden Parlamentsneuwahlen in Athen am nächsten Sonntag sind sich die Beobachter einig: Das Bündnis der Radikalen Linken (Syriza) unter Alexis Tsipras, vor dem Ausbruch der desaströsen Griechenland-Krise noch als Kleinstpartei versprengter Salon-Bolschewisten verspottet, die erst seit den Doppelwahlen im Frühjahr 2012 als führende Oppositionspartei im Athener Parlament fungiert, steht kurz davor, endgültig den Polit-Olymp in Griechenland zu erklimmen.

Kein Wunder: Hilfsbedürftige Familien will die Tsipras-Partei mit Gratisstrom versorgen. Die „Bekämpfung der humanitären Krise“ in Hellas sei für Syriza oberste Priorität, versichert die Parteispitze gebetsmühlenartig.

Die Syriza-Strategie hat offenbar Erfolg. Jüngsten Umfragen zufolge vereinen die Linksradikalen 31 Prozent der Stimmen auf sich. Die konservative Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) unter Premier Antonis Samaras kommt demnach nur auf 28 Prozent.

"Keine Schicksalswoche für den Euro"

Doch die deutsche Kanzlerin bleibt gelassen. Angela Merkel wendet sich gegen Krisenszenarien für den Euro angesichts der Wahl in Griechenland. „Ich würde nicht von einer Schicksalswoche für den Euro sprechen“, sagt die CDU-Chefin am Montag in Berlin. Sie habe immer wieder gesagt, dass die Euro-Krise nicht völlig überwunden sei. Die Bürger Griechenlands dürften die Möglichkeit zu wählen verantwortungsvoll nutzen.

„Unsere ganze Politik ist darauf gerichtet, dass Griechenland ein Teil des EuroRaums ist“, bekräftigt die Kanzlerin. Dafür gehörten Eigenanstrengungen Griechenlands und Solidarität der Euro-Mitglieder weiterhin zusammen. Deutschland sei zur Solidarität bereit.

Tsipras will an die Macht

Derweil tourt Tsipras im Eiltempo durchs ganze Land. Ob in Argos, Nafplion, Korinth, Rhodos, Arta, Agrinio, Jannina, Trikala, Karditsa oder Volos: Überall warten begeisterte Anhänger auf ihn. Nicht nur Tsipras’ vier Leibwächter sind im Dauerstress. Für Tsipras, den Wahlfavoriten in Athen, heißt es in diesen Tagen nur: Hände schütteln, Reden halten – und mit sichtlicher Genugtuung den brandenden Applaus genießen.

Und Tsipras donnert immerzu das ins Mikrofon, was am 26. Januar unter seiner Ägide ändern werde: „Kein Sparkurs mehr, keine Troika mehr, keine leeren Versprechen von Samaras mehr.“ Was Tsipras unmissverständlich von den knapp zehn Millionen stimmberechtigten Griechen fordert: „die absolute Mehrheit der Mandate, um alleine regieren zu können“.

So habe er die Hände frei, um harte Verhandlungen mit der Troika zu führen, versichert er. Doch wird es dafür reichen? Laut Public Issue käme Syriza aktuell auf 144 Mandate im 300 Sitze umfassenden Athener Parlament, den gemäß griechischem Wahlrecht garantierten 50-Mandate-Bonus für den Erstplatzierten schon miteingerechnet.

Pro-Syriza-Stimmung überall zu spüren

Tsipras’ Marschrichtung auf der Schlussgeraden vor dem Urnengang lautet daher, vor allem die noch unentschlossenen Wähler zu gewinnen. Ob der Pro-Syriza-Stimmung im Lande sprüht Tsipras jedenfalls vor Zuversicht: „Der Strom des Sieges wird zu einem reißenden Fluss“, ruft er in geradezu pathetischer Überhöhung seinen Anhängern zu.

Den Prognosen der Auguren zum Trotz: Sein Widersacher Samaras gibt nicht auf. Der Regierungschef will mit seinem Programm „Griechenland 2021“ punkten. Was es konkret vorsieht: die Fortsetzung des Reformkurses in Athen, die Schaffung von 770 000 Arbeitsplätzen, Steuersenkungen, stufenweise Renten- und Pensionserhöhungen.

Neue Sparmaßnahmen seien für Hellas nicht mehr nötig, betont auch Samaras demonstrativ. Ins gleiche Horn stößt der zur ND-Führungsriege gehörende Evangelos Meimarakis, zuletzt immerhin Athener Parlamentspräsident. Plötzlich poltert Meimarakis, der den rigiden Spar- und Reformkurs der Regierung Samaras bisher ohne Abstriche mittrug, gegen Griechenlands verhasste öffentliche Gläubiger-Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds. Meimarakis’ Motto: „Genug ist genug! Damit ist jetzt Schluss. Wir sind dafür die Hoffnung“.

Parolen der Noch-Regierenden kommen nicht an

Aber: Seiner merkwürdigen Lesart schenken nur noch eingefleischte ND-Anhänger ihren Glauben. Nach mehr als einem halben Dutzend Sparpaketen seit dem Frühjahr 2010, als sich das ewige Euro-Sorgenland in den faktischen Staatsbankrott manövrierte, sind derartige Parolen der Noch-Regierenden für das Gros der Griechen nur pure Heuchelei.

Fakt ist: In ihren Augen haben Samaras und Co. jeglichen Kredit verspielt. So lautet mit Blick auf den wegweisenden Urnengang die Devise: „Samaras abwählen. Der Nächste, sprich: Tsipras, ist jetzt dran.“ Wohlwissend nehmen die Griechen dabei in Kauf, dass auch unter einem Ministerpräsidenten Tsipras mit Blick auf eine wohl harte Haltung der internationalen Troika die nächste Enttäuschung drohen könnte. Scheitert auch Tsipras, stünde wohl schon bald ein neuerlicher Wahlgang in Athen an.