Die Intensität der Gewalt gegen Unparteiische ist in unteren Ligen hoch. Foto: Fotolia

Die zunehmende Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft kommt immer heftiger im Fußball an. Nach den Jagdszenen auf einen Schiedsrichter, der um sein Leben fürchten musste, schlägt der Fußball-Bezirk Stuttgart Alarm. Die Unparteiischen, aber auch die Vereine, erwarten vom Württembergischen Fußballverband ein hartes Durchgreifen.

Stuttgart - Ein Mineralwasser? „Gerne“, sagt Tarek S. (Name von der Redaktion geändert) mit leiser Stimme, freundlich, aber ohne eine Regung in seinem Gesicht. Im Laufe des Gesprächs starrt er entweder ins Leere, oder seine Augen blinzeln nervös. Der Mann wirkt traumatisiert. Was kein Wunder ist: Am Sonntag vor einer Woche erlebte der 25-Jährige sein persönliches Horrorszenario. Beim Fußball. Als Schiedsrichter. Bei der Ausübung seines Hobbys. Und nicht in seinem Beruf als Zeitsoldat. „Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Ich hatte Todesangst“, sagt Tarek S. mit Blick auf die Vorkommnisse bei der Kreisliga-B-Partie SV HNK Slaven Möhringen gegen TSV Jahn Büsnau.

Mit seiner Kampfeinheit war er schon sechs Monate lang in Afghanistan, ein Vierteljahr im Kosovo. Er war in Graben- und Häuserkämpfe verwickelt, er sah Verletzte und Tote, eine 100-Kilo-Bombe ging ein paar Hundert Meter neben ihm hoch. Doch diese Jagdszenen bei einem Fußballspiel trafen ihn besonders. Nach einer Roten Karte gegen einen Slaven-Spieler eskalierte es im Laufe des Spiels. Tarek S. berichtet, dass er nicht nur beleidigt und gejagt wurde, sondern am Boden liegend auch mehrmals auf ihn eingeprügelt wurde. Und das alles nicht in den Krisengebieten dieser Welt, sondern in Stuttgart. In der Stadt, in der Tarek S. geboren wurde und aufgewachsen ist. „Du bist tot, du kommst hier nicht lebend raus! Schlagt zu, bringt diesen Hurensohn um!“, haben die Spieler laut dem Unparteiischen gebrüllt. Tarek S. kam mit Prellungen im Gesicht und an den Rippen davon. Bis zum 6. Juni ist er krankgeschrieben. „Ich habe immer noch Schmerzen und kann nachts nicht schlafen“, erzählt er. Seine Mundwinkel gehen noch weiter nach unten. Als müsste er seine Worte etwas wirken lassen, macht er eine kurze Pause. Dann schiebt er hinterher: „Ich kann nicht mehr. Es geht nicht mehr. Ich werde nie wieder ein Spiel pfeifen.“

Fußball-Bezirk Stuttgart schlägt Alarm

Das alles hat den Bezirk Stuttgart veranlasst, Alarm zu schlagen und offensiv mit dem Thema umzugehen. Deshalb ist Tarek S. auch der Bitte zu einem Gespräch nachgekommen. „Dass ein Schiedsrichter mit Todesangst vom Sportplatz gehen muss, das konnte ich mir bis zum 11. Mai nicht vorstellen. Es hat nicht viel gefehlt, bis es nicht nur bei den Aufforderungen der Spieler geblieben wäre“, sagt der Bezirksvorsitzende Harald Müller, schrieb dies auch an die Vereine und forderte die Solidarität aller Fußballer.

In der Saison 2012/13 gab es laut Angaben des Württembergischen Fußball-Verbandes (WFV) bei 137 000 Spielen auf WFV-Gebiet 40 Spielabbrüche im Zusammenhang mit Gewaltausübung und 29 Tätlichkeiten gegenüber Schiedsrichtern. „Die Zahlen in den vergangenen zehn Jahren sind relativ konstant“, sagt Pressesprecher Heiner Baumeister. Dafür geht es immer rabiater zu. „Die Intensität der Gewalt nimmt zu, die Hemmschwellen sinken. Und die, die Gewalt ausüben, werden zum Teil immer jünger“, weiß P eter Schreiner, der Schiedsrichter-Obmann des Bezirks Stuttgart. „So kann es jedenfalls nicht weitergehen. Wir sind erschüttert und fassungslos“, ergänzt Schreiner, der Tarek S. derzeit praktisch rund um die Uhr betreut. Eigentlich wollte die gesamte Stuttgarter Schiedsrichterriege den Spieltag am vergangenen Sonntag boykottieren, wie es Kollegen in Berlin schon einmal taten. Die Unparteiischen überlegten es sich noch mal anders. „Die Mehrzahl der Spieler geht respektvoll mit den Unparteiischen um. Mit dieser drastischsten aller Maßnahmen hätten wir auch die große faire Masse getroffen“, sagt Schreiner. Es blieb bei der Absetzung des nächsten Spiels von HNK Slaven. Außerdem beantragte Bezirkschef Müller beim WFV-Spielausschuss den Ausschluss von Slaven Möhringen.

Wie sich der Multikulti-Club mit den kroatischen Wurzeln zu dem Fall stellt? Zunächst entschuldigte man sich via Facebook „für das inakzeptable Verhalten bei allen Büsnauern und HNK-Fans“. Beim betroffenen Schiedsrichter habe man sich laut Spielleiter Damir Osojnicki schriftlich entschuldigt. Der Mann gibt sich reumütig: „Das kann man nicht entschuldigen und auch nicht rechtfertigen, uns tut das Ganze am meisten leid“, sagt Osojnicki. Der für die Gewaltexzesse hauptverantwortliche Spieler werde vom Verein ausgeschlossen. Schlecht findet der Slaven-Spielleiter nur, „dass jetzt alle in unserem Verein verurteilt werden“.

Vereine fordern härtere Strafen

Der überwiegende Teil der Vereine fordert jedoch eher, noch härter durchzugreifen. Auch Matthias Beck pocht auf längere Sperren bis hin zum kompletten Ausschluss, also lebenslangen Sperren für Wiederholungstäter. „Die auffälligen Vereine sind doch bekannt, der WFV greift nicht hart genug durch“, sagt der Abteilungsleiter des TSV Münster. Ein Ausschluss der Vereine für nur ein Jahr sei keine Lösung. Im Vorjahr wurde Tunaspor Echterdingen zwar gesperrt, aber laut Statuten waren die Spieler ablösefrei, und zwölf von ihnen haben sich dem SV Heslach angeschlossen. „Die bisherigen Strafen haben offensichtlich keine abschreckende Wirkung. Der WFV muss überprüfen, ob seine Strafen noch zeitgemäß sind“, sagt Obmann Schreiner und fordert künftig „eine Null-Toleranz bei Fällen, in denen Grenzen überschritten werden“.

Beim WFV ist guter Rat teuer. Zwei Wochen vor dem Vorfall mit Slaven Möhringen initiierte der Verband eine Fair-Play-Aktion. Für 40 000 Euro ließ der Verein 250 000 blaue Karten drucken – mit dem Slogan „Bleib fair. Für Respekt und Toleranz im Fußball“. „Und dann kommt es kurz danach zu solch einer furchtbaren Schweinerei“, sagt WFV-Präsident Herbert Rösch – gibt sich aber weiter kämpferisch: „Wir lassen uns den Fußball von Kriminellen nicht kaputtmachen und tun alles, was in unserer Macht steht.“ Wie er das mögliche Abwandern von Kindern in andere Sportarten, das Bröckeln der Schiedsrichterzahlen, die Selbstzerstörung des Amateurfußballs insgesamt stoppen will? Rösch verweist auf Anti-Aggressions-Seminare, auf die Honorierung von Vereinen, die sich zu Toleranz und Respekt verpflichten, auf die Schulungen von Trainern und Betreuern.

Tarek S. hat das alles nichts gebracht. Ob es nicht doch ein Zurück an die Pfeife gibt? „Auf keinen Fall“, sagt er bei der Verabschiedung. Das Mineralwasser übrigens hat er nicht angerührt.