Gegen Algerien am Ende mal wieder auf der Position rechts hinten: Philipp Lahm Foto: Getty Images South America

Das 2:1 nach Verlängerung gegen Algerien war ein Rückfall in die Zeit des Rumpelfußballs. Noch so ein desolater Auftritt im Viertelfinale an diesem Freitag (18 Uhr/ARD) gegen Frankreich, und die WM könnte für die Deutschen jäh zu Ende sein

Santo André - Das 2:1 nach Verlängerung gegen Algerien war ein Rückfall in die Zeit des Rumpelfußballs. Noch so ein desolater Auftritt im Viertelfinale an diesem Freitag (18 Uhr/ARD) gegen Frankreich, und die WM könnte für die Deutschen jäh zu Ende sein

Muss von jedem mehr kommen, gibt es personelle Alternativen?

Nach vier WM-Partien gilt für alle Spieler: Jeder kann und muss zulegen, zum Teil sogar deutlich. Die Abwehr erwies sich gegen Algerien als Sicherheitsrisiko. Ein Glück nur, dass der Gegner zu fahrig mit seinen Torchancen umging. Gegen entschlossenere Mannschaften müssen die Abwehrspieler viel resoluter und kompromissloser einsteigen – so wie Manuel Neuer: Der Torhüter war höchst aufmerksam und bügelte ein ums andere Mal die Fehler seiner Vorderleute aus.

Die Problemzone im bisherigen Turnierverlauf aber ist das Mittelfeld. Mesut Özil ist rechts eine Enttäuschung, Mario Götze auf links eine Zumutung. Mit seinem Versteckspiel macht sich der Münchner überflüssig und vergrößert die Sehnsucht nach einem Mann wie dem Dortmunder Marco Reus, der kurz vor WM-Beginn verletzt ausgefallen war. Wie sehr sein Verlust wiegt, zeigt sich an Götze. Steht er auf dem Platz, wirkt es so, als spiele die Mannschaft mit einem Mann weniger. Dem Totalausfall begegnete Bundestrainer Joachim Löw, indem er Lukas Podolski eine Chance in der Startelf gab. Die hat der Kölner in Diensten des FC Arsenal durch einen blassen 45-Minuten-Auftritt gegen die USA zunächst verwirkt, allerdings ist er an normalen Tagen eine mehr als brauchbare Alternative.

Das gilt erst recht für André Schürrle, der nach seiner Einwechslung gegen Algerien ordentlich Betrieb machte und die Führung erzielte. So hat sich der Mann vom FC Chelsea vor dem Viertelfinale gegen Frankreich nachdrücklich für einen Einsatz in der Anfangself empfohlen.

Im Mittelfeld hat Löw den Mönchengladbacher Christoph Kramer in der Hinterhand. Er kann für Bastian Schweinsteiger oder Sami Khedira einspringen, die nach langen Verletzungspausen nicht genug Luft für 90 Minuten haben. Kramer ist zwar unerfahren, dafür eilt ihm der Ruf eines Laufwunders voraus. Keiner hat in der vergangenen Bundesligasaison mehr Kilometer pro Spiel abgespult – das könnte ihm gerade im heißen und tropischen Klima Brasiliens zum Vorteil gereichen.

Müssen manche Spieler auf anderen Positionen eingesetzt werden?

Was hat Mesut Özil nicht schon für brillante Spiele abgeliefert? An normalen Tagen ist der Dribbler mit dem Zauberfuß klasse, an guten Tagen ist er Weltklasse – wenn er in der Offensivzentrale schalten und walten kann. Der Regisseur vom FC Arsenal braucht das Spiel vor und seine Mitspieler um sich, dann kann er ins Tempodribbling gehen und schnelle, präzise Pässe spielen, mit denen er die gegnerischen Abwehrreigen auseinanderzureißen vermag. Im neuen 4-3-3-System gibt es seine angestammte Zehner-Position nicht mehr. Özil klebt nun an der rechten Außenlinie und ist dadurch nicht nur räumlich eingeschränkt. Als André Schürrle im Spiel gegen Algerien eingewechselt wurde, übernahm er die Position von Özil, der nach links wechselte, wo er ähnlich gehemmt agierte. So ist er verschenkt, der Mannschaft fehlt damit ein entscheidender Hebel, um eng stehende Abwehrreihen des Gegners zu knacken.

Auch Philipp Lahm kommt mit seiner neuen Rolle als Sechser nicht zurecht. Bei der WM spielt der Kapitän ähnlich unauffällig wie Özil, zudem unterlaufen ihm ungewohnte Patzer. Seine Stärken kamen erst zum Vorschein, als er gegen Algerien auf seine rechte Abwehrseite zurückkehrte. Da war der Münchner gewohnt sicher in der Defensive, überdies setzte er im Spiel nach vorn deutlich mehr Akzente als der verletzt ausgewechselte Shkodran Mustafi.

Die Vierer-Abwehr hatte Löw bis dahin mit vier Innenverteidigern besetzt – auch das ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Anders als früher, als sie nur nach hinten mauern mussten, sind moderne Außenverteidiger heute die ersten Angreifer. Sie sind für das Aufbauspiel zuständig und sollen, da der Weg durch die Mitte häufig versperrt ist, Angriffe einleiten und mit präzisen Flanken oder Läufen hinter die gegnerische Abwehrreihe Gefahr heraufbeschwören. Das kommt sowohl bei Mustafi als auch bei Benedikt Höwedes viel zu kurz. In Löws Kader sind Kevin Großkreutz (rechts) und Erik Durm für die Außen vorgesehen, beide kamen bisher aber nicht zum Einsatz – weil Löw offenbar zu wenig Vertrauen in sie setzt.

Braucht die deutsche Elf ein neues System?

Bastian Schweinsteiger war lange verletzt, Sami Khedira auch. Die beiden waren bei der EM 2012 und der WM 2010 als Doppel-Sechs gesetzt. Bei der WM 2014 sind beide offenbar nicht fit genug, um über die volle Distanz zu gehen. Sie müssen sich den Job zeitlich aufteilen. Darauf hat Joachim Löw reagiert. Weil er sich von Philipp Lahm in der Schaltzentrale mehr Stabilität versprach, änderte er kurz vor Turnierbeginn das System – vom bewährten 4-2-3-1 mit zwei zentralen Defensivkräften vor der Abwehr (Schweinsteiger, Khedira) zu einer 4-3-3-Ordnung. Darin ist Lahm der einzige Sechser, versetzt davor teilen sich Toni Kroos und Schweinsteiger oder Khedira die Halbpositionen. Das ist für alle Beteiligten neu und ungewohnt, entsprechend schwer tun sie sich damit. Denn groß einstudiert hat die Mannschaft das neue System nicht, und eine WM ist dafür das ungeeignetste Experimentierfeld. Das 4-2-3-1 dagegen hat sie seit Jahren verinnerlicht. Eine Rückkehr wäre auch während des WM-Turniers kein Problem.

Das hätte mehrere Vorteile: Die Doppel-Sechs gewährleistet mehr Absicherung nach hinten. Zurzeit steht die Mannschaft höher als früher, ist dadurch nach hinten anfälliger, aber nach vorn baut sie zu wenig Druck auf, um Fehler des Gegners zu erzwingen. Außerdem könnte Philipp Lahm auf die rechte Abwehrseite zurückkehren, wo er sich deutlich wohler fühlt und wo seine Stärken in der Offensive besser zum Tragen kommen. Gegen Algerien kehrte Joachim Löw zu dieser Ordnung zurück: Durch den verletzungsbedingten Ausfall von Shkodran Mustafi wurde er zu seinem Glück gezwungen. Denn prompt trat das Team kompakter und dynamischer auf.

Weitere Vorteile des 4-2-3-1-Systems: In ihm gibt es die Position des Spielmachers, die Mesut Özil auf den Leib geschneidert ist. Zentral hat er seine stärksten Länderspiele geboten. Jetzt ist die Position quasi abgeschafft, Özil muss sich im rechten oder linken Mittelfeld abplagen. Außerdem wäre dann wieder Platz für einen zentralen Stürmer (Miroslav Klose). Thomas Müller, der jetzt als falsche Neun agiert, könnte wieder mehr als Vorbereiter und Vorlagengeber agieren. Allerdings dürfte Löw kaum so viele Änderungen eingehen (wollen). Er hat sich auf das neue System festgelegt und wird, von sich und seiner Taktik überzeugt, wohl daran festhalten.

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