Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff (li.) mit Formel-1-Champion Lewis Hamilton (re.) und Daimler-Chef Dieter Zetsche Foto: Getty

Aus dem Mittelklasseteam Mercedes ist der Formel-1-Branchenführer geworden. Wie Motorsportchef Toto Wolff am Teamsitz in Brackley die Grundlagen für diesen positiven Wandel geschaffen hat, erzählt er im Interview.

Stuttgart - Herr Wolff, was hat sich geändert, seit Sie vor etwa zwei Jahren Ihren Job in Brackley angetreten haben?
Als ich das erste Mal hierhergekommen bin, da lagen eine „Daily Mail“ am Empfang, die war zehn Tage alt, und gebrauchte Kaffeebecher. Es mangelte am Blick fürs Detail.
Es wirkt fast schon ein wenig provinziell hier. Gibt’s keine Pläne für einen Ausbau?
Natürlich würde in einem neuen Komplex alles besser integriert sein können, aber einen Windkanal können Sie nicht einfach woanders aufstellen, es geht auch nicht, Prüfstände einfach zu versetzen. Wir machen das Beste draus – wir sind im Moment gut unterwegs, das haben wir ja vergangene Saison bewiesen. Zur Not müssen die Leute etwas näher zusammenrücken.
Das geht auch nur bedingt, oder?
Wir sind permanent damit beschäftigt, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Wir schauen dabei auch, wie andere Unternehmen das handhaben: Wie sind die Arbeitsplätze angeordnet? Wo gibt es Break-out-Zonen zum Diskutieren? Wir sind für neue Management-Konzepte offen. Wir haben etwa Brainstorming-Nachmittage eingeführt, an denen Mitarbeiter nicht an ihren Projekten arbeiten, sondern in der Gruppe über andere Dinge sprechen. So etwas ist immens wichtig für ein Unternehmen im High-Tech-Bereich. Jeder Mitarbeiter müsste eigentlich am Wochenende lieber ins Büro kommen, als zu Hause zu sitzen. Aber das ist wohl eine Illusion.
Gehört es auch zu Ihrem Führungsstil, nahe an den Mitarbeitern zu sein? Ihr Büro ist nur durch eine Glaswand abgetrennt, und die Einrichtung ist sympathisch bescheiden.
So wie ich eben bin! (Lacht über sich selbst)
Ist das auch wirklich ihr Büro?
Ja, tatsächlich (lacht.) Früher waren die Managementbüros einen Stock höher. Elfenbeinturm wurde das genannt, weil sich niemand raufgetraut hat. Heute sind das Meetingräume. Wir leben im ständigen Austausch, wir schätzen die direkte Ansprache – meine Tür steht allen offen. Der Chef muss sichtbar und greifbar sein. Die Präsenz der Führungskräfte im Unternehmen ist auch Motivation für die Mitarbeiter.
Wie viele haben Sie hier in Brackley?
Etwa 800. Ich versuche einen regelmäßigen Austausch mit allen Abteilungen zu haben, und wenn ich mich einmal im Design-Office befinde und mir erklären lasse, was die dort gerade machen, dann geht es nicht darum, dass ich das bis in die technische Tiefe verstehe. Es geht ums Zuhören. Ich möchte meine Leute dazu motivieren, „to walk the extra-mile“, wie wir sagen – und dazu gehört, dass ich für jeden ansprechbar bin. Wir investieren viel Zeit in Aus- und Weiterbildung, in gemeinsame Workshops. Da umarmen wir keine Bäume, da geht es um Kommunikation, um eine Feedback-Kultur.
Haben Sie diese Kultur eingeführt?
Nein, wenn jemand behauptet, hier etwas alleine gemacht zu haben, dann wäre das schlichtweg falsch. Wir haben dies gemeinsam als Gruppe getan. Unsere Abteilungsleiter sind da sehr innovativ, sie schauen nicht nur auf ihren Bereich, sondern haben die Gesamtstruktur im Blick. Ein Zahnrad muss ins andere greifen – wenn das Chassis nicht mit dem Motor interagiert, wird das große Ganze nicht funktionieren.
2014 hat das Ganze hervorragend funktioniert. Ist das Last oder Lust mit Blick auf 2015?
Eindeutig Vorfreude. 2014 ist aber nicht zu toppen – 16 Siege, davon elf Doppelerfolge; es wäre unverantwortlich, das erneut zu erwarten. Das würde voraussetzen, dass wir annehmen, im Winter alles richtig gemacht zu haben – aber wenn du das annimmst, ist es der Beginn des Endes. Dann verlierst du den Boden unter den Füßen. Wir wollen den leichten Schuss Skepsis beibehalten, dass es womöglich doch nicht gut genug war, was wir getan haben. Alle Betrachtungen gehen vom Worst-Case-Szenario aus. Ich rechne stets mit dem Schlimmsten. Das ist für eine realistische Erwartungshaltung nötig. Wenn sie zu hoch ist, wird man enttäuscht – und mit Enttäuschung kannst du nicht arbeiten.
Das Saisonziel lautet . . .
. . . sieg- und meisterschaftsfähig zu sein. Damit wäre das Ziel der Marke erreicht. Einen Titel zu gewinnen und wieder Branchenführer zu sein, das wäre der Best Case.
Steckt dieser Unternehmensgeist im Team?
Der hat nicht drinnen gesteckt. Früher hat man in weniger erfolgreichen Zeiten immer versucht, den Silberstreif am Horizont zu erkennen. Man hat hervorgehoben, was noch gut war. Etwa die schnellste Rennrunde, auch wenn der Fahrer nur Zwölfter geworden ist. Oder es wurde betont, dass drei Zehntel an Rundenzeit gefunden wurden. Es war immer die Best-Case-Betrachtung, damit gerätst du in ein Hamsterrad, in dem du die eigenen Erwartungen nie erfüllen kannst und stets enttäuscht wirst. Nun ist es anders. Nehmen wir die Diskussionen nach den Barcelona-Tests, da wurden Albtraum-Szenarien ausgemalt. Aber ich gebe zu: Ganz so schwarz muss man es nicht immer sehen.
Wenn Sie Mitarbeiter einstellen, wie prüfen Sie, ob diese Leute diesen Spirit besitzen?
Jede Einstellung der ersten und zweiten Ebene habe ich zumindest gesehen oder gesprochen. Ich hatte vor ein paar Tagen ein Gespräch mit einem fachlich wirklich guten Mann, aber es hat von Beginn an die Chemie nicht gestimmt. Schnell wurde klar: Keine Chance, er passt nicht zu uns.
Ist es auch die gute Chemie im Team, die Mercedes so erfolgreich macht?
Wir sind ein Mittelständler, wir probieren Dinge, wir versuchen ein Arbeitsumfeld zu kreieren, das motivierend wirkt, wir fördern Aus- und Weiterbildung sowie die Kommunikation. Unsere Feedback-Kultur funktioniert. Das war nicht immer so. Wir hatten früher das Problem, dass sich die Leute nicht getraut haben, Feedback zu geben. Es gab Fälle, da haben sich Leute geäußert und waren plötzlich nicht mehr da. Diese Philosophie zu verändern, das geht nicht von heute auf morgen.
Wie unabhängig ist die Formel-1-Fabrik in England vom Daimler-Konzern in Stuttgart?
Der Vorstand weiß, dass wir in der Formel 1 schnell Entscheidungen treffen müssen. Wir kommunizieren am Rennwochenende mit Mitarbeitern, Sponsoren, Konkurrenten, mit der Sporthoheit, dem Serienvermarkter – da geht es darum, effizient Informationen und Situationen zu unserem Vorteil zu nutzen. Wir vertreten aber einen Weltkonzern, deshalb müssen wir aufpassen, was wir sagen und tun. Wir müssen einerseits schnell reagieren, andererseits unsere Reaktion sauber abwägen. Ich möchte Ihre Frage mit einer Analogie beantworten: Wir sind an der Leine des Konzerns, aber man lässt diese Leine sehr lang. Das ist nötig: Wir benötigen die Power des Konzerns, müssen aber schnell und selbstständig agieren können.
Holen Sie sich Unterstützung aus Stuttgart?
Es war in England zu Beginn nicht leicht zu vermitteln, dass wir Stuttgart einbeziehen müssen. Wir hatten bei der Hybrid-Kühlung ein Kontaminationsproblem, das sie in der Serie gekannt haben – das hatten wir in ein paar Tagen gelöst. Es gibt Themen, bei denen wir wissen, dass Know-how in Stuttgart vorhanden ist. Ein Mitarbeiter aus Sindelfingen unterstützt uns derzeit im Design für drei Monate – Beispiele wie ihn gibt es viele. Wir profitieren vom Know-how des großen Konzerns, das ist ein Wettbewerbsvorteil.
Auch finanziell profitiert Brackley. Haben Sie aber nicht einmal gesagt, Ihr Ziel sei es, mit der Formel 1 schwarze Zahlen zu schreiben?
Mit dem sportlichen Erfolg steigen die Einnahmen. Die Formel 1 liefert zudem einen Marketing-Gegenwert, der ein Vielfaches des Invests darstellt. Mein persönlicher Anspruch ist, dass dieses Team irgendwann autark arbeiten kann und selbstständig seine finanzielle Grundlage erwirtschaftet.
Ohne Subventionen aus Stuttgart?
Über steigende Einnahmen aus dem sportlichen Erfolg und der Erhöhung der Sponsorenerlöse. Wir haben in den letzten drei Jahren unser Sponsorship mehr als verdoppelt. Die Kosten-Nutzen-Rechnung geht auf.
Wo steht Mercedes in der neuen Saison?
Von der Performance her bin ich zuversichtlich, dass wir die mitnehmen konnten. Ich kenne aber den Stand der Konkurrenz nicht, die Analyse der Testfahrten ist wie das Lesen aus einer Kristallkugel. Für unser Team habe ich positive Indikationen, dass unser Auto wieder konkurrenzfähig ist. Wir sollten in den Rennen durchkommen, wir sollten für Siege gut sein – und wenn alles funktioniert, können wir die Meisterschaft gewinnen.
Ein bisschen mehr Spannung als 2014 wäre für die Formel 1 nicht schlecht.
Für Spannung zu sorgen ist nicht mein primärer Auftrag. Meiner lautet: das Mercedes- Team so gut aufzustellen wie möglich. Wir haben 2014 doch als Team alles gemacht, um die Serie spannend zu gestalten – wir haben unseren Fahrern freie Fahrt gewährt. Auch wenn es nicht einfach war, das zu managen.
Welche Lehren haben Sie daraus gezogen?
Aus der Kollision in Spa sind wir gestärkt hervorgegangen. Jeder hat gelernt, dass es kontraproduktiv fürs Team ist, wenn sich die Rivalität zu sehr zuspitzt. Wir haben gelernt, dass wir alle an einem Strang ziehen, auch wenn jeder Einzelne seinen Favoriten hat.
Heißt das, das Verhältnis zwischen Nico Rosberg und Lewis Hamilton hat sich entspannt?
Im Winter hat sich das entspannt, in dieser Zeit haben sie sich ja nicht gesehen. Aber wir wissen nicht, wie sich ihr Verhältnis entwickeln wird, wenn die Saison in Melbourne beginnt. Beide kennen die Regeln, da wir aber mit Worst-Case-Szenarien arbeiten, gehen wir davon aus, dass sich unser Team wieder besonderen Herausforderungen stellen muss.