Ein besonderer Fußballlehrer: Martin Hägele Foto: baumann

„Fußball spielen ist besser, als das Grundgesetz in arabischer Sprache zu verteilen!", sagt der Fußballvisionär Martin Hägele. Er fordert einen Pakt zwischen Kommunen, Vereinen und Verband, um junge Flüchtlinge besser zu integrieren.

- Herr Hägele, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an die Flüchtlingskrise denken?
Dass wir uns meistens fremd bleiben und große Aufgaben auf uns zukommen werden.
Was fehlt?
Das Menschsein. Dass wir aufeinander zugehen, dass wir in Kontakt kommen. Uns mit ganzen Sinnen wahrnehmen. Erst dann wachsen Verständnis und Vertrauen. Das müssen wir ganz schnell hinbekommen in unserer Gesellschaft.
Und wie soll das gelingen?
Durch spielen.
Sie scherzen.
Nein. Der Mensch ist nur dann ganz Mensch, wenn er spielt. Im Spiel machen wir genau das, was derzeit fehlt. Wir lachen gemeinsam, wir feiern gemeinsam oder trauern gemeinsam. Und kein Spiel eignet sich besser als das Fußballspiel.
Das müssen Sie näher erklären.
Der Fußball ist eine ideale Form, Menschen zu verbinden oder zu integrieren. Durch den Fußball bekommen wir auf der emotionalen Ebene Zugang zu den Menschen, weil der gemeinsame Spaß am Spiel im Vordergrund steht. Hier brauchen wir keine Sprache, jeder kann’s, die Regeln sind klar.
Das klingt sehr abstrakt. Wo sind die praktischen Anknüpfungspunkte für eine bessere Integration der Flüchtlinge?
Schauen Sie nach Esslingen. Dort bietet ein ehrenamtlich tätiger Trainer zweimal nachmittags ein Training für Flüchtlinge an. Und wir holen die Menschen auch dort ab.
Das ist ehrenwert, aber was bringt’s für die Integration von Flüchtlingen?
Sie denken zu kurz. Sie ahnen nicht, wie man über die Regeln des Fußballs das Wertesystem unserer Kultur näherbringen kann. Ich sage Ihnen: das funktioniert besser als das Grundgesetz in arabischer Sprache zu verteilen. Aber etwas anderes ist viel entscheidender.
Was meinen Sie?
Das, was ich anfangs erwähnte. Man kommt in Kontakt. Denn der Fußball ist doch mitten in fast jeder Gesellschaft angekommen. Er bringt einen ins Gespräch. Und so verliert man die Angst vor dem Fremden.
Schöne Sonntagsreden. Wie können Fußballvereine das konkret umsetzen?
Wir müssen bei den Kindern anfangen. Sie müssen wir in die Vereine holen, herzlich aufnehmen, sofern es die Strukturen zulassen. Hier fängt nämlich die Wertevermittlung spielerisch an. Daher brauchen wir hier auch Trainer mit pädagogischem Geschick. Der Trainer wird, ob er will oder nicht, zum Sozialarbeiter.
Manche Vereine sind froh, überhaupt einen Übungsleiter zu finden. Qualifizierte Trainer sind Mangelware.
Ohne Frage, die Vereine und die Trainer brauchen dabei Hilfe. Sie brauchen ein klares Konzept, eine kompetente Leitung mit hauptamtlichen Strukturen.
Viele Vorstände werden Sie jetzt für verrückt erklären. Wer soll einen hauptamtlichen Mitarbeiter bezahlen?
Ich weiß. Aber das ist meine Vision. Und die ist letztlich nur durch Kooperationen von Vereinen möglich. Das Motto der Zukunft kann nur lauten: kooperieren statt konkurrieren.
Bleiben wir bei den Hilfen für Vereine: Wer soll sie in der Flüchtlingsarbeit unterstützen?
Alle Beteiligten. Von der großen Politik bis hin zur kleinen in den Kommunen. Aber auch der Verband unterschätzt immer noch die soziale Kraft des Fußballs, sonst hätte er bisher schon viel mehr getan im Kinderfußball. Generell sollte ein Runder Tisch her. Aber die Initialzündung muss von den Kommunen kommen, sie müssen auf die Vereine zugehen.
Kommunen haben derzeit aber ganz andere Probleme.
Klar. Aber ich sehe darin eine große Chance. Denn aufgrund der Flüchtlingsproblematik ist man gezwungen, etwas zu tun. Jetzt kann man Strukturen schaffen, von denen hinterher der ganze Juniorenfußball und damit die ganze Gesellschaft profitiert. Über den Fußball kann man alle Kinder und Jugendlichen abholen, sinnvoll beschäftigen – letztlich integrieren.
Gibt es gute Beispiele?
Die Stadt Ludwigsburg hat einen Fußballtrainer angestellt, der als Bindeglied zwischen den Gruppen fungiert und sich um alle Ludwigsburger Fußballvereine kümmert. Das ist grundsätzlich ein guter Ansatz, den man auf andere Kommunen oder gar auf den Verband übertragen könnte.
Wird der VfB Stuttgart seiner gesellschaftlichen Verantwortung in Bezug auf die Flüchtlingsfrage gerecht?
Sagen wir es so: Der VfB könnte durch seine Strahlkraft, sein Image, durch Innovationen oder mit seiner Fußballschule in die Vereine gehen und ihnen helfen, die nötigen Strukturen aufzubauen, damit man den Kindern gerecht wird. Noch mal: Alle Gruppen, die mit Fußball zu tun haben, müssen jetzt mit anpacken.
Wie lautet Ihre Vision?
Jeder, egal wie alt er ist und woher er kommt, soll die Möglichkeit haben, in einer Gruppe oder in einem Verein Fußball zu spielen. Und dort wird er so betreut, dass er etwas fürs Leben lernt. Deshalb appelliere ich an die Lokalpolitiker, den Württembergischen Fußball-Verband und alle Vereine, mehr in diese Richtung zu unternehmen.