Carla Juri spielt grandios in "Feuchtgebiete" Foto: Verleih

David Wnendt hat aus Charlotte Roches vieldiskutierten Buch „Feuchtgebiete“ einen grandiosen Film gemacht, der nur schwer auszuhalten ist.

Filmkritik und Trailer zum Kinofilm "Feuchtgebiete"

Stuttgart - Streng genommen ist dies eine Art Horror-Film. Er dringt tief ein in die letzte Tabuzone einer überreizten Gegenwart, die Gewalt und Pornografie im Überfluss bietet: die intime Welt der Körperöffnungen und -ausscheidungen. Helen Memel geht offensiv damit um. Dass sie gerne die Finger in die Hose steckt und dann daran riecht, ist noch harmlos – sie experimentiert in der Badewanne mit Gemüsesorten, tauscht mit Freundin Corinna Tampons, reibt sich ein aus ihrem Hintern entferntes infektiöses Geschwür auf die Haut, wischt mit dem Unterleib eine total verdreckte öffentliche Klobrille ab.

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In ihrer vieldiskutierten Romanvorlage hat Charlotte Roche auf drastische Art den Hygienewahn thematisiert und den diesbezüglichen gesellschaftlichen Druck auf Frauen; David Wnendt nun arbeitet in seiner Verfilmung viel deutlicher heraus, was die Protagonistin umtreibt. Er befreit Helen aus ihrem inneren Monolog, erzählt viel in Bildern, gibt der Geschichte eine Gefühlstiefe, die die Zuschauer in einen Zwiespalt stürzt: Je besser man dieses Mädchen versteht, desto unmöglicher wird es, die beinharten Ekelszenen als Effekthascherei abzutun.

Dialogwitz und rasante Schnitte

Wnendt zeigt Helen als kleines Mädchen, mit Desinfektionsspray und Gummihandschuhen das Klo putzend – getrieben von einer hygienefixierten Mutter, die das Kind später als Lektion nicht auffängt, sondern aufs Pflaster knallen lässt (wunderbar als entrückte Psychopathin: Meret Becker). Dann zieht auch noch der freundliche, aber in jeder Hinsicht abwesende Papa aus (hier unfassbar cool: „Tatort“-Kommissar Axel Milberg). Helen hat nun nur noch ein Ziel, auch als heranwachsende Skateboard-Fahrerin: Die beiden wieder zu vereinen.

Das wirkt als Grundmotivation weit weniger küchenpsychologisch, als es klingt. Wnendt überzeichnet, er arbeitet mit einem für deutsche Verhältnisse ungewöhnlichen Dialogwitz, rasanten Schnitten und virtuos eingestreuten Musikfetzen. So illustriert er ein fein konstruiertes Drama um Helens Neurose, die sich in Autoaggression manifestiert: Indem sie ihrem Körper Gewalt antut, rebelliert sie gegen eine aseptische Welt, in der selbst Huren sofort zum Desinfektionstuch greifen. Und sie drückt damit aus, was ihr fehlt: Dass endlich jemand ihr ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt, dass endlich jemand sie annimmt, wie sie ist.

Danny Boyles hartes Drogendrama „Trainspotting“ war sein Vorbild

Realität und Fantasie verschwimmen in Helens Kopf, besonders, nachdem sie mit einer Analfissur ins Krankenhaus kommt und operiert werden muss (sehr komisch als blasierter Chirurg mit Männerwitz: Edgar Selge). Den Krankenpfleger Robin lockt sie mit krassen Anekdoten aus der Reserve, die Wnendt mit hohem Risiko visualisiert: Wenn vier Pizzabäcker auf ihr Produkt masturbieren, fliegen Schlieren in Zeitlupe vor Schwarz zu den Walzerklängen der „Blauen Donau“ wie einst die Raumschiffe in Stanley Kubricks „2001“.

Konsequent hat der Regisseur in seinem Debüt „Kriegerin“ (2011) schmerzhafte Einblicke ins barbarische Neonazi-Milieu gegeben, ebenso konsequent bringt er nun das scheinbar Unverfilmbare auf die Leinwand – in einem gewaltig nachhallenden Filmerlebnis, wie man es aus Deutschland lange nicht gesehen hat. Danny Boyles hartes Drogendrama „Trainspotting“ war sein Vorbild, und er erweist ihm alle Ehre.

Vorbehaltlos empfehlen kann man diesen Film trotzdem nicht. Auszuhalten ist er überhaupt nur wegen Hauptdarstellerin Carla Juri. Mit natürlichem Charme und einer Aura burschikoser Unschuld schwebt die noch unbekannte Schweizerin durch die Groteske, tut Unaussprechliches, als wäre es ganz selbstverständlich, und lächelt sämtliche Unappetitlichkeiten einfach weg.

An diesem Freitag, 23. August, sind Carla Juri und Produzent Peter Rommel nach der 20.30-Uhr-Vorstellung zu Gast im Stuttgarter Metropol-Kino.

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