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Im Alten Schauspielhaus Stuttgart lässt sich Ryan McBryde von der Aura rund um Goethes „Faust I“ nicht einschüchtern: Der britische Regisseur inszeniert den Klassiker als turbulentes Pop-Art-Theater – und als Abrechnung mit einer pervertierten Konsumgesellschaft.

Stuttgart - Zwei Wände liegen im sterilen Licht der Deckenfluter, dahinter eine hohe, weiße Mauer. Die Bühne im Alten Schauspielhaus ist so grell ausgeleuchtet, dass man das Nichts, das sich dort ausbreitet, kaum übersehen kann. Dann erscheinen fünf schwarze Buchstaben auf der Rückwand: F.A.U.S.T. – liest man leise mit, und das Wort klingt so unheilvoll wie vielversprechend.

Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“ ist eines dieser geflügelten Mysterien, dem weithin kaum zu viel Bedeutung beigemessen werden kann. Nicht umsonst verabschiedet sich Alt-Revolutionär Frank Castorf gerade ausgerechnet mit einer siebenstündigen Faust-Inszenierung von der Berliner Volksbühne. Dennoch ist Johann Wolfgang von Goethes Philosophenstück über den Gelehrten Faust, der einen verhängnisvollen Pakt mit dem Teufel schließt, für viele Theatermacher ein Horror: ein Panoptikum verschachtelter Textberge, die schwer zugänglich und noch schwerer visualisierbar sind. Über 50 Jahre werkelte der Autor selbst an seiner Tragödie – und erklärte sie nach ihrer Vollendung zum kaum spielbaren Textmonster. Wer sich heute an eine Inszenierung wagt, hat allerdings nicht nur Goethes Knittelverse zu fürchten. Dazu kommt die Ehrfurcht, die über dem „Jahrhundertstück“ liegt: Wer „Faust“ sagt, muss Großes liefern.

Souverän löst sich der Regisseur von allen Erwartungen

Im Alten Schauspielhaus löst sich der Brite Ryan McBryde nun überraschend souverän von diesen Erwartungen. Statt sich vom Ruhm des alten Meisters einschüchtern zu lassen, inszeniert er seinen „Faust I“ als waghalsiges Pop-Art-Theater. In seiner cleveren Andersartigkeit ist das Stück dabei – trotz seiner Texttreue und dem fast konservativ chronologischen Handlungsverlauf – weit mehr als eine stilisierte Goethe-Hommage: Es ist die mitleidslose Abrechnung mit einer pervertierten Genussgesellschaft.

So wird der berühmte Pakt zwischen Faust und Mephisto auf der Bühne zum brutalen Triumphzug von Oberflächlichkeit und Rausch. Ist der verkopfte Professor anfangs noch verzagt und zurückhaltend, kokst und lügt er sich bei dröhnendem Deep House im zuckenden Stroboskoplicht bald rücksichtlos durch die ihm so verhasste Welt. Christoph Bangerter gibt den lauernden Verführer Mephisto dabei mit beeindruckend abstoßender Zwielichtigkeit und verbeißt sich so zielsicher in sein Opfer, dass dem einst aufrichtigen Faust bald keine Chance mehr bleibt.

Sinnbilder einer verrohten Konsumgesellschaft

Den Niedergang des vermeintlichen Moralisten verpackt McBryde in eine Reihe grotesk überzeichneter Sinnbilder einer verrohten Konsumgesellschaft. Fausts Verwandlung – schließlich muss Mephisto aus dem halbblinden Greis einen ansehnlichen Womanizer machen – wird zu einer geradezu verstörenden Session in einem Beauty-Salon. Und die berühmte Walpurgisnacht gerät zu einem LSD-Trip, der so verstörende Alptraumszenarien zur Folge hat, dass man kaum mehr hinsehen mag.

Das Plakative stellt so eine auf allen Ebenen oberflächliche Welt bloß: Jedes Bild, jeder Song, jede Choreografie ist Teil dieser Dauerinszenierung. „I don’t want to fall in love“ haucht zum Beispiel Chris Isaak, während Faust und sein Gretchen durch eine Reihe ikonischer Bilder der Mainstream-Popkultur stolpern: Erst kuscheln sie sich im Planetarium aneinander, küssen sich in einer dunklen Ecke des Aquariums und knabbern anschließend verliebt auf einem Jahrmarkt Zuckerwatte – alles Szenen aus Hollywoodfilmen, alles pervertierte Parodien einer glitzernden Scheinwelt.

Katharina Paul spricht als Gretchen den Text leichtfüßig und wahrhaftig

Als Gegenpol bleibt einzig das scheue Gretchen, das (beeindruckend: Katharina Paul) an der Verkommenheit dieser Realität zerbricht. Während Tilmar Kuhn als Faust sichtlich Mühe hat, Goethes Verse in eine einigermaßen flüssige Alltagssprache zu übersetzen, bildet Gretchen auch hier einen schönen Kontrast: Katharina Paul spricht den komplizierten Text so leichtfüßig, als lese sie den Zuschauern nebenbei ihren Einkaufszettel vor. Und gerade so offenbart sich auch hier noch einmal der Graben: Wo Faust theatralisch – und letztlich folgenlos – unter seiner Schuld zusammenbricht, leidet Gretchen still – und als einzige wahrhaftig.

Weitere Vorstellungen: bis 29.04., täglich außer sonntags, 20 Uhr.