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Evolution: Starke Veränderungen der Umwelt beschleunigen die Anpassung der Lebewesen.

Mainz - Neue Schlagadern, andere Fingerabdrücke, weniger Knochen. Der Homo sapiens heute sieht ganz anders aus als noch vor 10000 Jahren, denn er durchlebt derzeit eine Evolution im Schnelldurchlauf. Und möglicherweise sieht er künftig sogar aus wie E.T.

Was würden Steinzeit- und Gegenwartsmenschen sagen, wenn sie sich heute begegnen würden? Vermutlich würden sie staunen und kaum glauben können, dass sie der gleichen Spezies angehören. Allein schon ihre unterschiedliche Kopfform: Unsere Vorfahren hatten noch kräftige Kiefer, weil deren Wachstum durch langes und kräftiges Kauen angeregt wurde. Als dann jedoch die Nahrung immer mehr zerkleinert und zerkocht wurde, fielen die mechanischen Reize aus, der Kiefer schrumpfte, und für die Zähne wurde es eng. Weswegen im heutigen Fast-Food-Zeitalter immer mehr Menschen eine Zahnspange brauchen, um ihr Gebiss auf Reihe zu trimmen.

Das Verkümmern des Kauapparats erfolgte in den letzten fünf bis zehn Jahrtausenden. Das klingt lang, ist aber eher kurz. Denn in evolutionärem Zusammenhang wird normalerweise in Jahrmillionen gerechnet, doch offenbar wirkt die Zivilisation wie ein Evolutionsbooster. Heftige Veränderungen der Umwelt - und dazu zählt die Zivilisation - erfordern von den Lebewesen eine beschleunigte Anpassung, wenn sie überleben wollen.

Milch können wir noch nicht lange vertragen

Einige dieser Anpassungen würden wieder verschwinden, wenn wir zur steinzeitlichen Lebensweise zurückkehren würden. Andere sind stabil. So konnten die Menschen beispielsweise bis vor etwa 7000 Jahren keinen Milchzucker verdauen. "Sie konnten zwar Rindfleisch essen, aber keine Kuhmilch trinken", erklärt Paläogenetiker Joachim Burger von der Universität Mainz. Doch dann entwickelte sich in Europa die Landwirtschaft, deren Anpassungsdruck groß genug war, dass sich beim Menschen ein Gendefekt durchsetzte, mit deren Hilfe er fortan Milch verdauen konnte. Weswegen die meisten Europäer und europäischstämmigen Amerikaner keine Probleme mit Milch haben, während in Afrika 80 bis 100 Prozent an Laktoseunverträglichkeit leiden. Völkerwanderungen und Mischungen unter den ethnischen Gruppen könnten hier wohl für eine Quotenverschiebung sorgen, doch insgesamt wird uns die Milchzuckertoleranz aufgrund ihrer genetischen Verankerung erst einmal erhalten bleiben.

Dagegen würde das im Westen grassierende Übergewicht über kurz oder lang verschwinden, wenn sich seine Bewohner wieder mehr bewegen und weniger Kalorien verzehren würden. Anders sieht das jedoch beim Knochengerüst aus.

Christopher Ruff von der School of Medicine in Baltimore hat 100 fossile Beinknochenfunde aus den vergangenen zwei Millionen Jahren der Menschheitsgeschichte geröntgt und dabei herausgefunden, dass ihre Stärke bis zum Ende der Steinzeit, also etwa 5000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, um 15Prozent abnahm. Doch mit dem Beginn der Zivilisation beschleunigte sich dieser Prozess. "In den letzten 4000 Jahren reduzierte sich die Knochenstärke um 15 Prozent - also um den gleichen Wert, für den vorher fast zwei Millionen Jahre benötigt wurden", erläutert Ruff. Der Mensch ist also im evolutionären Schnelldurchlauf immer graziler geworden, allerdings nur vom Skelett her betrachtet. Denn die dünneren Knochen müssen mehr Fettmasse tragen als früher, und da sind gesundheitliche Probleme programmiert.

Eine mysteriöse Schlagader im Arm

Andererseits tröstet Ruff, wenn er sagt, dass Knochen sich zwar im Laufe eines Menschenlebens weniger beeinflussen lassen als Fettgewebe, doch eine gewisse Flexibilität besitzen auch sie: "Professionelle Tennisspieler haben in ihrem Schlagarm einen um 40 Prozent stärkeren Oberarmknochen als im anderen Arm." Da bestünden durchaus individuelle Gestaltungsmöglichkeiten.

Die Zivilisation änderte auch die hormonelle Konstellation im Menschen. In der Steinzeit waren Frauen einen großen Teil ihres Lebens entweder schwanger oder stillend, was sich deutlich auf ihren Östrogenlevel niederschlug. Momentan hingegen haben sie - zumindest in unseren Breiten - weniger Kinder, und wenn, dann stillen sie kürzer oder gar nicht, und sie verhüten oft per Antibabypille. "Heutige Frauen sind viel größeren Östrogenmengen ausgesetzt", sagt der Anthropologe Israel Hershkovitz von der Tel Aviv University. Und diese Hormonschwemme sei eine der Hauptursachen dafür, dass derzeit jede achte Frau an Brustkrebs erkrankt.

Weniger gefährlich, aber mysteriös ist, dass dem Menschen derzeit eine neue Schlagader im Arm wächst, nämlich die Arteria mediana. Im embryonalen Stadium findet man sie noch in jedem Menschen, doch nach der Geburt bildet sie sich meistens zurück. So war es jedenfalls bisher, doch die Zeichen stehen jetzt auf Veränderung. Der Humanbiologe Maciej Henneberg von der australischen University of Adelaide entdeckte nämlich, dass zu Beginn des 20.Jahrhunderts noch etwa zehn Prozent der Menschen die Arteria mediana in ihrem Arm hatten, knapp ein Jahrhundert später waren es jedoch schon 30 Prozent.

Malariaresistent aber blutarm

Offenbar ist es aus evolutionärer Sicht sinnvoll geworden, den durch Handwerk oder Arbeit am PC-Keyboard stark belasteten Fingern eine zusätzliche Blutversorgung zu gönnen. Doch diese Entwicklung hat auch Nachteile: Denn bei Patienten mit schmerzhaftem Karpaltunnelsyndrom fanden Wissenschaftler überdurchschnittlich viele Fälle, in denen die Arteria mediana ausgebildet war. Im Arm müssen eben sehr viele Nerven- und Blutbahnen auf engstem Raum klarkommen.

Sogar unsere Fingerabdrücke veränderten sich, wie Henneberg herausfand. Wobei das zu den Veränderungen gehört, die weder schaden noch nützen. Problematischer wird es aber, wenn Blut und Immunsystem tangiert werden. So setzt sich bei den Menschen in Malaria-Gebieten zunehmend ein Gendefekt durch, der einerseits dem Erreger seine Überlebensgrundlage raubt, andererseits aber zu einer ernsthaften Blutarmut führt. Die Evolution musste sich eben entscheiden, ob sie den Homo sapiens vor Malaria schützt oder ihm eine optimale Sauerstoffversorgung garantiert, beides ging offenbar nicht. Am Ende siegte der Seuchenschutz, weil er für den Arterhalt wichtiger ist.

Die starke Zunahme von Autoimmunerkrankungen und Allergien hängt nach Ansicht von Kathleen Barnes von der John Hopkins University auch damit zusammen, dass wir einen Gast verloren haben, der viele Jahrhunderte lang in unserem Darm lebte, als wir noch überwiegend auf dem Land lebten: den Pärchenegel. Dieser Parasit animierte damals das Immunsystem zur Produktion von Abwehreinheiten, die nicht nur vor dem Wurm, sondern auch vor überschießenden Immunreaktionen schützten. Jetzt ist der Wurm, infolge der veränderten, urbanen Lebensumstände, aus unseren Gedärmen verschwunden, und dem Immunsystem fehlt dadurch eine wichtige Korrekturinstanz. "Natürlich können wir jetzt nicht anfangen, die Städte künstlich mit dem Parasiten zu verschmutzen", sagt die amerikanische Anthropologin. Aber man könnte die entscheidenden Moleküle auf seiner Oberfläche nachbauen und dadurch das Immunsystem entsprechend trainieren, so dass es weniger überschießende Reaktionen zeigt.

Bleibt die Frage, wie in unseren Breiten der Mensch der Zukunft aussieht. Möglicherweise werden die Frauen kaum noch Brüste - als Krebsrisiko viel zu gefährlich! - und die Männer immer weniger Muskeln - braucht man am Schreibtisch nicht mehr! - haben, insgesamt die Beine immer kürzer und die Kiefer immer mickriger werden, so dass wir am Ende aussehen wie E.T. Auf den Zungen werden die Sensoren fürs Bittere verschwunden ein, weil diese Geschmacksnote von der Lebensmittelindustrie kaum noch angesprochen wird, und bei den Augen scheint alles auf eine Epidemie der Kurzsichtigkeit hinauszulaufen. Möglicherweise kommt aber auch alles ganz anders. Denn Hauptantriebsmotor der Evolution ist die ziellose Mutation im Erbgut, die sich dann im harten Überlebenskampf behaupten muss. Und dabei kann so ziemlich alles herauskommen.