Aus Stuttgart gebürtig: der Kulturmanager Martin Roth Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

„Ich will Leben im Museum“: Eine Erinnerung an den Museumsdirektor Martin Roth, aus Stuttgart gebürtig, in der Welt daheim.

Stuttgart - Es gibt so viele großartige Museen in London zu besichtigen. Aber kein Urlaubstag war für uns im Sommer 2014 anregender und entspannter als der Montag (!) im Victoria and Albert Museum in South Kensington. Jeder Besucher wurde am Eingang von einem Mitarbeiter freundlich begrüßt, als habe man gerade ihn sehr dringend erwartet: „Can I help? Do you need any information? Enjoy your visit!“ Großzügig, vielfältig, ebenso edel wie informativ präsentierte sich im Innern die größte Kunstgewerbe- und Designsammlung der Welt. Für Überraschungen sorgte eine Sonderschau mit Protestplakaten aus den Londoner Straßenkämpfen der 70er und 80er Jahren. War das noch Kunst? „Do you think, it isn’t? Would you like to take part in our open discussion?“

Und das Überraschendste für uns war: Das riesige Gebäude summte und vibrierte vor Besuchern und vor Aktivität – und es waren keineswegs nur die Londoner Touristenmassen, die sich hier von Kunsthighlight zu Kunsthighlight schoben. Am stärksten war der Summ- und Brummfaktor zur Mittagszeit, als plötzlich lauter Office-Volk mit Sandwichboxen unterm Arm herbeiströmte und erst ein bisschen Kunstbetrachtung und dann ein bisschen Chillen im schönen Museumsinnenhof machte (ach so, wer es nicht wissen sollte: der Besuch der staatlichen Museen in England ist natürlich kostenlos).

Wir waren hingerissen. Ungefähr so hatten wir uns immer ein lebendiges Museum vorgestellt. Und uns fiel ein, dass es doch seit einiger Zeit von einem Deutschen geleitet wurde: Martin Roth – zuvor erfolgreich Chef der Kunstsammlungen in Dresden, zuvor erfolgreich Chef des Deutschen Hygiene-Museums, noch länger zuvor Student der Empirischen Kulturwissenschaft in Tübingen, und am längsten zuvor geboren in Stuttgart.

Beim Blick in den Schlossgarten wird er nostalgisch

Sollte man diesen Roth nicht vielleicht einmal interviewen, was deutsche Museen eventuell von britischen lernen können? Gesagt, getan, E-Mail geschrieben – und drei Tage später kam die Antwort: nette Anfrage, vielen Dank. Kommendes Wochenende sei er in familiären Dingen in Stuttgart unterwegs, man könne sich ja zum Abendessen im Hotel am Schlossgarten treffen.

Erster böser Gedanke: Na typisch, da will sich ein weltgewandter Kulturhengst ein Edel-Nachtmahl in der Sternegastronomie auf Pressekosten ergattern. Doch völlig und sehr weit verfehlt: Als wir eintreffen, zieht es den imposanten Grauhaarigen überhaupt nicht in den plüschigen ersten Stock, sondern zur Vinothek-Karte und auf die ebenerdige Sommerterrasse direkt zum Park hin und mit Blick aufs Schauspielhaus. „Hier werde ich immer nostalgisch“, erklärt er uns. „Zu Peymanns Zeiten konnte ich ab und zu mit dem Abo meiner Eltern ins Theater. Hier unter den großen Bäumen hab ich das erste Mal so richtig geknutscht.“

Unprätenziös nennt man Menschen, die auf ihrem Fachgebiet weit überdurchschnittliche Fähigkeiten haben, die noch dazu immer mal wieder mit den richtig reichen oder den richtig mächtigen Leuten dieser Welt an einem Tisch setzen, die aber trotzdem jedem Gesprächspartner und fast jeder Situation offen, ohne Dünkel begegnen. Die Selbstironie deutlich feiner finden als Ironie gegenüber den Mitmenschen. Man darf das keineswegs mit Bescheidenheit verwechseln. Bescheiden war Martin Roth keineswegs. Er wusste sehr genau um die Erfolge seiner Karriere und den Einfluss, den er als Ratgeber von Politikern, Unternehmern und Mäzenen einzusetzen vermochte. Das verkörperte er in der Begegnung selbstbewusst. Aber an keiner Stelle aufdringlich. Und eben gar nie prätenziös. Das ist unter Kulturschaffenden, die ja von öffentlicher Aufmerksamkeit häufig leben, leider selten.

Die Queen will wissen, wie gut er sich auskennt in der Museumsgeschichte

Es gab einen offiziellen Gesprächsteil (zum Zwiebelrostbraten, natürlich), in dem Roth lobte, dass die britischen Musseen unabhängiger von der Politik sind, den äußeren Zeremonien zum Trotz. Und dass es für ihn keinen größeren Alptraum gibt als ein leeres Museum. Ein Museum ohne Besucher. „Das ist ein bisschen wie Hölle. Ohne Betrachter gibt es für mich kein Kunstwerk. Ich will Leben im Museum.“ Und dann gab es einen Gesprächsteil ohne Band, in dem er zum Beispiel schilderte, wie er ganz am Schluss seiner Berufung als Museumschef am Victoria and Albert zum Essen bei der Queen eingeladen war. „Das Haus ist schließlich von ihren Ur-ur-Großeltern gegründet worden. Sie will wissen, wer da das Sagen hat.“ Und worüber hat man dann geplaudert? „Sie fühlte vor, ob ich über Prinz Alberts Sozialreformen im Bilde sei.“ Er war es.

Aus Protest gibt er nach der Brexit-Abstimmung seinen Posten auf

Ach ja, und dann drehte Roth den Spieß irgendwann um. Befragte plötzlich die Gastgeber. Wie sie dieses oder jenes aktuell sahen. Im Sommer 2014 überlegten gerade zwei deutsche Städte, sich für die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2024 zu bewerben, Hamburg und Berlin. Roth war als Berater im Hintergrund tätig. Er ahnte den Widerwillen bestimmter Stadtgruppen gegen ein solches Großprojekt (just daran scheiterte dann ja auch bald die Idee). Aber er verwies auf die Erfahrungen 2012 in London: „Die Londoner waren erst alle gegen Olympia. Und dann waren es großartige Sommerwochen. Die Stadt war offen und international wie schon lang nicht mehr, die Menschen plötzlich so leicht und neugierig.“ Das habe den Briten sehr gut getan, das hätten sie immer mal wieder nötig, so einen Schub.

Als Martin Roth am 4. September 2016 bekannt gab, seinen Posten in London zu räumen, und zwar aus Protest gegen die fremdenfeindlichen Stimmungen im Land nach der Brexit-Abstimmung, witterten manche Kommentatoren einen Vorwand. Wieso sollte man einen der wichtigsten, einflussreichsten und vermutlich auch lukrativsten Museumsposten der Welt wegen ein bisschen Fremdenfeindlichkeit im Land aufgeben? Aber all jene, die Martin Roth persönlich erlebt haben, werden niemals Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines Schrittes gehegt haben. Er wäre nun in Stuttgart vermutlich ein sehr guter Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen geworden. Jetzt ist er mit nur 62 Jahren verstorben.