Blick in die Esser-Ausstellung in der Kunsthalle Karlsruhe; ein Besucher betrachtet das Bild „44 Le Tréport“ Foto: dpa

Unter dem Titel „Über Kunst“ präsentiert unsere Zeitung eine eigene Veranstaltungsreihe. Gast am 2. März ist der Künstler Elger Esser. Eine Ausstellung in Karlsruhe zeigt, wie seinen Fotoarbeiten Gegenräume zur digitalen Beschleunigung gelingen.

Karlsruhe - „Eigenzeit“ – mit Blick auf die von Einstein geklärte Relativität der „vierten Dimension“ – nannte sich schon Elger Essers Ausstellung 2009 im Kunstmuseum Stuttgart. Und tatsächlich ist seine Sensibilität für den raschen Wandel, den Zeit mit sich bringt, ungewöhnlich und eigen. In der antik geprägten Ewigen Stadt Rom aufzuwachsen ging nicht spurlos an Esser vorbei. Als es für ihn in der Klasse von Bernd und Hilla Becher an der Düsseldorfer Kunstakademie galt, eine Prüfung zu bestehen, hatte er die Stirn, das mit dem Motiv eines Sonnenuntergangs zu versuchen. Fortan galt er, erzählt er, unter seinen Kommilitonen als der „Häretiker der Becher-Klasse“.

Postkarten werden Bilder

Auch die von Wellen, Gischt und wilder Brandung aufgewühlten Bilder französischer Küsten, mit denen nun die Ausstellung in der Kunsthalle Karlsruhe den Besucher empfängt, fordern heraus. Die großen Formate stellen sich auf Staffeleien in den Weg und entwickeln die Aura stattlicher Leinwandgemälde. In Wirklichkeit handelt es sich um hochvergrößerte Postkarten aus einer Zeit, als die Fotografie sich anschickte, Bilder von der Welt massenhaft, also „demokratisch“ unter den Leuten zu verbreiten. Bildhaftigkeit erlangen sie durch ihre unerwartete Größe, die sorgfältig gewählten Ausschnitte und mit Retuschen, für die der Künstler unter dem „aussterbenden Beruf“ in der Eifel ein Ehepaar ausfindig machte, das Essers Intentionen kongenial zu realisieren verstand.

Entgegen kommt Esser bei der Auswahl aus seiner riesigen Sammlung von Postkarten, dass sich Fotografen im 19. Jahrhundert auf einen Wettstreit mit der Malerei einließen, ihre Bilder ähnlich wie der bildende Künstler organisierten und „malerische“ Effekte anstrebten. Umgekehrt bedienen sich Maler heute noch gern der fotografischen Gedächtnisstütze, verfahren damit nur nicht mehr so diskret wie ehedem. Kunst dabei hervorzubringen, so Essers Überzeugung, ist beiden möglich, dem Maler wie dem Fotografen. Und damit scheitern kann der eine wie der andere auch.

Faszination Handwerk

Dieses zeitlose Thema behandeln vier große „Schiffswrack-Bilder“, die im Grünen Saal der Kunsthalle „im alten Präsentationsmodus der Galerie des 19. Jahrhunderts“ (Kunsthallen-Direktorin Pia Müller-Tamm) in Erscheinung treten und damit an ehrwürdige Vorläufer wie Brueghel, C-D. Friedrich, Géricault und Turner erinnern. Inspiriert dazu hat Elger Esser der Monolog von Goethes Torquato Tasso, in dem ein Grundkonflikt des Künstlers, nämlich seine Kollision mit gesellschaftlichen Verhältnissen, mit den Worten des Dichters zur Sprache kommt. Wie bewusst der Staatspreisträger mit seiner Arbeit gegen den Strich der Zeit bürstet, geht auch aus der Präsentation von Heliogravuren in den Pultvitrinen des Kupferstichkabinetts hervor. Nur noch drei Drucker in Europa sollen sich auf diese Spielart des Tiefdrucks verstehen.

Das Nachdunkeln der versilberten Kupferplatten ist programmiert: Der Himmel dieser Sonnenuntergänge in Frankreich wird sich verdüstern. Nicht zuletzt wirft die Sorgfalt, die der Künstler dem stets begleitenden „Photobuch“ zu seinen Werkzyklen widmet, ein bezeichnendes Licht auf sein Selbstverständnis.

Diese Bücher gelten Elger Esser als integrale Bestandteile seines Werks und bilden gemeinsam mit dem Museum als Ausstellungsort „Gegenräume zum Netz“, zur digitalen Konsumtion von Bildern. Dabei macht er von digitaler Technik, wo sie unumgänglich ist, ganz selbstverständlich Gebrauch, weshalb Pia Müller-Tamm Elger Essers Kunst in ihrem Vorwort „insoweit als prä- und postdigital“ charakterisiert.

Ägyptens Leuchten

Im Mohl-Flügel fällt der ungemein helle, gelbliche Farbton der „Ägypten“-Serie ins Auge. Die Reise auf dem Nil ging 2011 auf einem Segelschiff vor sich, als auf dem Tarirplatz in Kairo demonstriert wurde. Der Strom bei Assuan war menschenleer wie sonst nie. Der auffallende Sandton der großen Flusslandschaften entstand ursprünglich unabsichtlich, entsprach aber dem subjektiven Empfinden, dem Licht, der nahen Wüste gerade so am besten. Elger Esser rechnet sich als Künstler nach der Unterscheidung, die Charles Baudelaire in einem Essay über Delacroix getroffen hat, zu den Fantasten, nicht zu den Realisten.

Seine Aufnahmen erhellt nicht nur Tageslicht, für Beleuchtung ist auch sein Geist zuständig. Auch die tiefe Hängung und die großen Formate haben damit zu tun. Der Betrachter soll keinesfalls zum Bild aufblicken müssen, und er soll sich darin verlieren, mit dem Blick darin schweifen können wie bei der Seine-Landschaft bei Les Andelys oder drei anderen Positionen mit Meerblick.

Die Seine in der Dämmerung stimmt auf die Serie von Nocturnes ein, die Esser im Garten von Claude Monet in Giverny gemacht hat. Nur mit größtmöglicher Distanz zum großen Impressionisten wagte sich der Fotograf an das Vorhaben und arbeitete deswegen nachts oder am sehr frühen Morgen.

Die Langzeitbelichtungen dauerten zuweilen lang genug, dass der Mond quer durch das Bild den Bogen seiner Bahn spannt. Das populäre Motiv mit der japanischen Brücke beschränkt sich auf lichtarme Graustufen, die Seerosen sind über Nacht geschlossen, die Kräuselspuren auf dem Wasser gehen auf Karpfen zurück. Den für den späten Monet typischen Blick auf den Spiegel der Wasseroberfläche, der den Himmel reflektiert, hat der Künstler verkehrt herum konzipiert, so dass die eigentlich gespiegelten Gehölze sich scherenschnittartig vom vermeintlichen Himmel abheben.

Sehnsuchtsland Frankreich

80 Prozent seiner Aufnahmen stammten aus Frankreich, seinem „Sehnsuchtsland“, so Elger Esser. Sein Langzeitprojekt, zu dem Marcel Proust Pate stand, ein „Atlas“ von Frankreich, ist darum „Combray“ überschrieben. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kam der Ort durch die Schilderung des berühmten Dichters zu Ehren.

Von den etwa sechshundert bis tausend Arbeiten, die der Fotograf für das gigantische Vorhaben veranschlagt, habe er in zehn Jahren freilich nur an die hundert geschafft. 24 werden jetzt im Amersbach-Flügel der Kunsthalle gezeigt.

Alle Exponate der Werkgruppe sind große Heliogravüren auf Büttenpapier und von unglaublich feiner Auflösung der Details und der Grautöne. Sie zeigen leerstehende und dem Verfall preisgegebene historische Bauten, ursprünglich gebliebene Landschaften, an deren Existenz man gar nicht glauben will, die Ruine einer Tuchfabrik, die drei Bränden zum Opfer fiel, oder den Totentanz im Kirchenschiff von La Ferté-Loupière, wo die Zeit endgültig zum Stillstand kam.