Auch bei Olympia in Russland wird Doping eine wichtige Rolle spielen Foto: dpa

In Sotschi geht es um Medaillen und Moneten – mit allen Mitteln? Für Experten ist klar: Viele Athleten gehen gedopt an den Start, erwischt werden dürfte aber kaum jemand.

Stuttgart - Um den Blick für die Realität zu schärfen, hilft es manchmal, sich kurz mit der Vergangenheit zu beschäftigen. 1968 fanden die Olympischen Winterspiele in Grenoble statt. Seither hat sich der Sport rasant entwickelt, und mit ihm die Methoden, mit denen Athleten ihre Leistung manipulieren. Erwischt indes wurden, während die olympischen Wettkämpfe auf Eis und Schnee liefen, gerade mal 20 Athleten. Selbst die größten Romantiker des Sports werden eingestehen: Die Zahl der Betrüger muss höher sein. Viel höher.

„Saubere Spiele? Das ist illusorisch“, sagt Anti-Doping-Forscher Perikles Simon, der davon ausgeht, dass in Sotschi (7. bis 23. Februar) bis zu 60 Prozent aller Olympia-Starter gedopt sein werden. Auf eine Zahl will sich Werner Franke zwar nicht festlegen, aber der bekannteste deutsche Anti-Doping-Experte sagt: „Auch der olympische Wintersport ist total versaut.“

Das sieht Stefan Matschiner ebenso. Er wurde 2008 bekannt als Doping-Dealer von Tour-de-France-Bergkönig Bernhard Kohl, hatte aber auch Kunden aus dem Wintersport. „Jede Sportart hat ihre Droge“, sagt der Österreicher, „Marathon ebenso wie Skilanglauf, der 400-Meter-Lauf ebenso wie ein alpiner Slalom.“ Dass das Dopingproblem im Winter ebenso groß ist wie im Sommer, daran haben die Experten keinen Zweifel. Simon, Molekularbiologe an der Uni Mainz, will keine Disziplin freisprechen: „Es wäre verrückt anzunehmen, dass zum Beispiel im Curling nicht gedopt wird. Mit modernen pharmakologischen Möglichkeiten kann ich in jeder Sportart einen Effekt erzielen.“

Werner Franke erzählt dazu gerne eine Geschichte aus dem Eisschnelllauf. Der damalige DDR-Chefmediziner Manfred Höppner schrieb Mitte der 1980er-Jahre in einem Brief an die Stasi, man könne bei Karin Enke nicht so hoch dosiert weiterdopen wie bisher: Bei der Athletin, die bei den Spielen in Lake Placid (1980) und Sarajevo (1984) drei Goldmedaillen gewann, sei eine Vermännlichung nicht mehr zu übersehen. „Eisschnelllauf ist eine der dopingverseuchtesten Sportarten überhaupt“, sagt Franke, Professor für Zell- und Molekularbiologie am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg.

In Sotschi werden, vor allem in Ausdauer- und Schnellkraft-Disziplinen, viele russische Medaillen erwartet – selbst in Sportarten, in denen es für die Athleten aus dem Riesenreich in der aktuellen Weltcup-Saison nicht gut gelaufen ist. „Russland ist ein einziger großer Dopingsumpf“, sagt Werner Franke. Das belegen die neuesten Zahlen.

Nach Angaben der russischen Anti-Doping-Agentur (Rusada) gab es allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2013 mindestens 88 überführte Dopingsünder – doppelt so viele wie im gesamten Jahr 2012. Und das dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein. „Vor Olympia ein paar Russen zu überführen, das war doch ein absolutes Muss“, meint Stefan Matschiner, „alles andere wäre ja total unglaubwürdig gewesen.“

Und trotzdem gibt es weiterhin genügend Schlupflöcher. Sportmediziner Helmut Pabst war jahrelang als Dopingkontrolleur unterwegs, unter anderem im Auftrag internationaler Verbände auch in Russland. Doch dort Athleten zu überführen, das sei kaum möglich gewesen: „Kaum waren wir ins Land eingereist, hatte sich schon verbreitet, dass fremde Kontrolleure kommen.“ Entsprechend lang war die Vorwarnzeit.

Auch bei Olympia, da sind sich die Experten sicher, wird es keinen oder nur ganz wenige positive Tests geben – obwohl das IOC mehr kontrollieren wird als je zuvor. „Wer in Sotschi aus dem Hotel geht, der ist vorher gecheckt worden. Wer sich dort ertappen lässt, der ist bescheuert“, sagt Werner Franke, und Stefan Matschiner meint: „Das Präparieren mit Dopingmitteln ist vor Olympia abgeschlossen. Wer es auch nur ein bisschen geschickt macht, der wird nicht erwischt.“

Und das gilt natürlich nicht nur für Athleten aus Russland. Gedopt wird überall. Mit Epo und seinen Nachfolgern, mit Bluttransfusionen, mit anabolen Steroiden, mit Testosteron. Für das Wachstumshormon IGF-1 gibt es ebensowenig eine Nachweismethode wie für den Muskelbeschleuniger Aicar, der bei der Tour 2013 der Renner gewesen sein soll. Und selbst Gendoping hält Simon nicht für ausgeschlossen. „Damit kann ich problemlos einen Affen auf den gewünschten Hämatokritwert einstellen. Gendoping ist das Doping der Zukunft, doch ich weiß nicht, ob es nicht auch schon die Gegenwart ist“, sagt der Anti-Doping-Forscher, „und dahinter steckt ein ausgeklügeltes System. Im modernen Doping geht es nicht ohne einen Stab an Medizinern und Betreuern. Das macht kein Athlet alleine.“

Auch Werner Franke hat beobachtet, dass sich Betrüger ein Beispiel an der Dopingrundumversorgung genommen haben, wie sie einst an der Uni Freiburg geboten wurde: „Dieses Modell haben viele Länder auf ihre Gegebenheiten übertragen. Und wir Deutschen mischen beim Doping weiter kräftig mit, das zeigt das Beispiel der Wiener Blutbank. Dort waren auch deutsche Athleten, deren Namen bis heute gehütet werden wie ein Staatsgeheimnis.“

Bleibt die Frage nach dem Gegenmittel. Keiner der Experten traut dem IOC zu, die richtigen Antworten zu finden. Im Gegenteil. „Ein engagierter Kampf gegen Doping ist politisch gar nicht gewollt“, meint Perikles Simon, „denn jeder positive Fall ist für das IOC geschäftsschädigend.“ Dabei ist ein probates Mittel, die Proben einzulagern und acht Jahre später mit neuesten Methoden noch einmal zu überprüfen. Das hat das IOC im Jahr 2012 mit den eingefrorenen Tests von den Sommerspielen 2004 in Athen auch gemacht – allerdings nur mit 110 von 3667 Proben. Fünf Athleten aus Russland (2), Weißrussland (2) und der Ukraine wurde nachträglich überführt. „Aber warum wurden nicht alle Proben noch einmal überprüft? Man dürfte sich nicht scheuen, auch mal 60 oder 70 Prozent eines Feldes zu überführen. Doch das IOC wollte keine Klarheit, wie verseucht Athen wirklich war“, kritisiert Simon, „dabei sind es genau diese Nachtests, die gedopte Athleten wirklich fürchten.“