„Killing Bach“: ein Schlagzeuger des SWR-Sinfonieorchesters Foto: Astrid Karger

Mit beeindruckenden neuen Werken von Mark Andre, Olga Neuwirth und Gerhard Rühm ist am Sonntag Deutschlands wichtigstes Festival für zeitgenössische Musik zu Ende gegangen.

Buh!, schallt es durch die Sporthalle, und nochmals: Buh! Die Rufe kommen nicht vom Publikum des Abschlusskonzertes der diesjährigen Donaueschinger Musiktage, sondern von Orchestern des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Dann nimmt ein Schlagzeuger einen Schlagbohrer in die Hand, durchlöchert eine Holzplatte; Elektroschocker und Spraydosen treten in Aktion. Gelbe Luftballons werden aufgepustet, fliegen brummend durch die Luft, und zwischendurch gibt es zerfetzte alte Musik: Bach vor allem – nebst dem klingenden B-A-C-H seines Namens – , aber auch Wagners „Tristan“-Motiv.

Neben einem merkwürdig verschatteten Choral-Remix hört man eine Fuge, die in eine Zentrifuge geraten ist und sich dort in eine Art böse-skurrilen Faschingsmarsch verwandelt, dem sich das Orchester, nachdem die Schlagzeuger mächtig mit Pistolen in die Luft geballert haben, stumm anschließt. es folgt der Abgang aller, auch des Dirigenten François-Xavier Roth; die Bühne bleibt still und leer.

„Killing Bach“ heißt das Stück, das der Italiener Francesco Filidei, ehedem Stipendiat der Akademie Schloss Solitude, komponiert hat, aber eigentlich geht es nur bedingt um Bach, und lustig ist die Musik auch nur an der Oberfläche. Darunter brodelt wilder Widerstand: gegen die Vernischung und Marginalisierung der Hochkultur, gegen Sparszenarien in Bereichen, die ebenso überflüssig wie überlebensnotwendig sind – und konkret gegen die Auflösung eines Klangkörpers, der am Sonntagnachmittag letztmals bei den Donaueschinger Musiktagen zu hören ist.

Mark Andre schreibt Töne zwischen Sein und Nichtsein

Auch Mark Andre protestiert, aber sehr viel subtiler. „über“ heißt das Klarinettenkonzert, in dem es um Töne zwischen Sein und Nichtsein geht, um Klänge, die verschwinden. Mit guten Gründen hat der in Berlin lebende Franzose, dessen Oper „Wunderzaichen“ 2014 in Stuttgart uraufgeführt wurde, sein Werk für Jörg Widmann geschrieben, denn der bringt sich hier so ein, wie sich wohl nur ein ebenfalls komponierender Klarinettist (oder ein Klarinette spielender Komponist) einbringen kann. Mit langen, leisen Atemzügen des Solisten beginnt „über“, mit langen, leisen Atemzügen des Solisten endet es. Dazwischen hört man, wie auch das Orchester ungemein zerbrechliche, zerbrechende Klänge formt, die den Musikern manchmal unter den Fingern zu zerstäuben scheinen, und wie der Komponist hier mit Hilfe einer gleichsam versteckten Elektronik die physisch produzierten Klänge durch den Spielraum irren lässt, ist ein Zauberwerk. Andre selbst, tief religiös, spricht von Metaphysik, und man spürt, was er damit meint. „über“ ist ein feines, großes Stück, das zu Recht am Ende mit dem Orchesterpreis ausgezeichnet wurde.

Schon das subtil ausgearbeitete Werk des Franzosen Yves Chauris („Why so quiet“) hatte, indem es die Zuhörer zwischen sechs Schlagzeugern und einem eminent farbigen Orchester gleichsam zu Teilen eines pulsierenden Klangkörpers machte, mit den eher mittleren bis schlechten künstlerischen Ergebnissen an den ersten beiden Festivaltagen versöhnt. Auch zuvor war am Sonntag Beeindruckendes zu erleben. Zum Beispiel bei der Verleihung des Karl-Szuka-Preises für Hörspiel als Radiokunst, der 2015 an einen der Altmeister der konkreten Poesie, Gerhard Rühm, ging. Dessen Redeoratorium „Hugo Wolf und drei Grazien, letzter Akt“ ist eine virtuose Textpartitur mit einer musikalisierten Sprache, bei der sich die direkte Sinnebene ganz im Klanglichen, in polyfonem Nebeneinander, in Rhythmik und Metrik auflöst und so Platz macht für ein sinnliches Sinn-Erleben: hinreißend. Und in „Le Encantadas“ hat die Österreicherin Olga Neuwirth den Donauhallen nicht nur eine überwältigende kathedralische Nachklang-Akustik implantiert, sondern hält ihre Zuhörer auch über 70 Minuten hinweg mit spannenden Wechseln zwischen sehr unterschiedlichen, stets elektronisch gut unterfütterten Klangmomenten in Spannung. Wellenschlag, Nachhall, Möwen und Stimmen entführen nach Venedig, man träumt sich so weg. Vorzuwerfen ist der Komponistin nur, dass sich ihr Vokabular gelegentlich allzu stark auf Tonleitern beschränkt und dass die Einführung einer Art popmusikalischer Brechung dramaturgisch ungeschickt ein bisschen zu spät im Stück passiert.

Kuckucksuhren und Philosophie

Ein Spaziergang zum Schloss macht zunächst munter, weil es dort Mario Verandi in einem dortigen Souvenirladen fertigbringt, einen tiefgründigen Text über die Zeit von Augustinus mit dem Klang von Kuckucksuhren zusammenzubringen. Wenn anschließend dann aber Thomas Schulz wenige Hundert Meter weiter in seiner Klanginstallation „Durch die Raum fällt“ herumklettert und mit einem Bogen die durch das ehemalige Fischhaus gespannten Saiten bedeutungsschwanger traktiert, dann wirkt das auf ziemlich gefährliche Weise dilettantisch. Kunst ist viel größer als dies. Buh hat dennoch keiner gerufen. Schade.