Schüttel deine Vagina: Peaches (Mitte) mit Josephine Köhler (links) und Louis Stiens in „Die sieben Todsünden“ Foto: Bernhard Weis

Garantiert nicht jugendfrei: Im Schauspielhaus macht Peaches das Drei-Sparten-Stück „Die sieben Todsünden“ zur Ein-Frau-Show

Stuttgart - Eigentlich wird dieses Stück momentan immer und überall gespielt. In Stuttgart treibt der Verteilungskampf nicht nur um saubere Luft und bezahlbare Wohnungen besonders auffällige Blüten; zu Habgier, Neid, Zorn und dem restlichen Siebener-Team der Todsünden wäre hier also einiges zu sagen.

Doch Stuttgarter Realitäten bleiben außen vor, als „Die sieben Todsünden“ am Samstag auch drinnen im Schauspielhaus die Bühne erobern. Mit dem kanadischen Electro-Punk-Star Peaches in der Hauptrolle ist vielmehr für internationale Aufmerksamkeit gesorgt. Und weil das Stück allein nicht abendfüllend ist, gehört die Szene in einem zweiten Teil exklusiv Peaches und ihren zum Teil fast zwanzig Jahre alten Songs wie „Fuck the Pain away“, die mit einem provokantem Mix aus lautem Sound, expliziten Texten und anzüglichen Gesten für ein ausverkauftes Haus auch jenseits der Premiere sorgen.

Der Starrummel verstellt leider die Sicht darauf, dass mit dieser Inszenierung erstmals seit 1996 alle drei Staatstheatersparten wieder einmal gemeinsame Sache machen. Gelang Martin Kusej einst mit „König Arthur“ ein spartenübergreifendes Kultstück, stehen nun die Zeichen auf Starkult. Dabei wollten die drei neuen Intendanten zu Beginn ihrer gemeinsamen Amtszeit eigentlich Verbundenheit demonstrieren.

„Die sieben Todsünden“ waren da eine gute Wahl. Zudem könnte das Ballett mit Gesang, das den jüdischen Komponisten Kurt Weill, den Theatermann Bertolt Brecht, den russischen Choreografen George Balanchine und andere Künstler 1933 im Pariser Exil zusammenbrachte, gerade in Stuttgart verblüffend aktuell sein. Es spielt zwar im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts, in dem ein entfesselter Kapitalismus zum Kampf mit harten Bandagen ermuntert. Doch mit „sündiga, sündiga, Häusle baua“ ließe sich die Motivation der Familie, die Brecht zeigt, locker auf hiesige Verhältnisse übertragen. Die Eltern, unterstützt von zwei Söhnen, schicken die Tochter Anna hinaus in die Welt, um als Gastarbeiterin den Hausbau daheim in Louisiana zu finanzieren.

Die Musiker sitzen am Boxring

Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler inszeniert diese verkehrte Welt, in der die Familie die Tochter zwecks Gewinnmaximierung mit forschem Gesang zur Unzucht auffordert, passend in und um einen Boxring. An drei seiner Seiten sitzen im Bühnenbild von Katrin Connan die von Stefan Schreiber geleiteten Staatsorchester-Musiker und rahmen Peaches und ihre sieben singenden und tanzenden Mitstreiter so packend, dass die Stil- und Rhythmuswechsel in Weills Konzept nie als Bruch, eher als sich überlagernde Denkschwellen erscheinen.

Brecht ließ Anna durch den familiären Druck in zwei Charaktere zerbrechen. Einige Finanzkrisen später splitten Anna-Sophie Mahler und der Choreograf Louis Stiens sie in noch mehr Persönlichkeiten auf, die alle mit einer kurzrasierten Frisur auch Peaches-Doubles sind. Im Boxring lassen die Schauspielerin Josephine Köhler und der Tänzer Louis Stiens die Fäuste fliegen; schnell kommen im Kampf von Vernunft und Gier Wrestling-Tricks ins Spiel, werden eitel Pirouetten und Muskeln präsentiert. Melinda Witham verfolgt als gereifte Senior-Anna das Treiben der Jungend statuenhaft aus der Distanz, während Peaches mit klar verständlichem Englisch, mit mal rotzig-trotzigem, mal zweifelnd-sanftem, aber immer eingängigem Gesang die Abgründe zwischen Verlogenheit und Verlockung ergründet. Und sich nicht aus dem Tritt bringen lässt von den rhythmischen Attacken der geldgeilen Sippe, die ein formidabel singendes Männerquartett (Elliott Carlton Hines, Gergely Nemeti, Christopher Sokolowski und Florian Spiess) einwirft.

Peaches landet wie ein Alien

So weit, so gut. Doch dann lässt sich das Sünden-Team dazu hinreißen, Brechts Kritik durch einen feministischen Einwurf kleinzureden. Auf „Die sieben Todsünden“ folgt ein Monolog, in dem Josephine Köhler mit der Verwunderung eines Teenagers Frauenbilder feiert, um sie gleich wieder mit dem Zorn einer Enttäuschten zu zerpflücken. Dieser Aufzählung aus Virginie Despentes’ „King Kong Theorie“ gibt Köhler zwar gehörig Biss, trotzdem taugt sie nicht als Scharnier zwischen Brechts Sicht und der von Peaches, weil sie Despentes’ Analyse der Sexualmoral als Spiegel der hierarchischen Verhältnisse komplett ausblendet.

Ohne eine solche Analyse landet Peaches One-Woman-Show auf der Bühne im Schauspielhaus wie ein Ufo. Aliens gleich entsteigen ihm tanzende Vagina-Masken, eine vielbusige Kostümierung, Schamhaarzöpfe, die zum Headbanging einladen. Mit verzerrter Stimme singt die Kanadierin, als führe sie düster den Todsünden-Vorsitz am Tag des letzten Gerichts. Sie verkündet grausige Strafen und verordnet Sex, der so schmutzig, schnell und hart sein soll wie der Kapitalismus, den er zuspitzt.

Man muss nicht prüde sein, um trotz treibender Beats diese Sexshow in ihrer Vorhersehbarkeit und choreografischen Reduziertheit reichlich langweilig zu finden. Immerhin kann man dank der Übertitelung seine Englischkenntnisse einschlägig vertiefen oder aber Künstler von neuen Seiten kennenlernen. Dass Louis Stiens ein Club-Fan ist, sieht jeder an seinen lässigen Bewegungen, als Sänger hat er noch Luft nach oben. Elliott Carlton Hines wiederum und Josephine Köhler haben auch als Go-Go-Tänzer verblüffendes Potenzial.

Nach Peaches’ Entblößungen ist das versöhnliche Ende mit einer zögerlich ins Licht schreitenden Melinda Witham mehr als irritierend. Erlösung? Gleich vor dem Schauspielhaus ist der Kampf um die besten Übernachtungsplätze schon in vollem Gange.

2., 7., 12., 17., 25 2., 2., 10., 23., 30. 3. Alle Vorstellungen sind ausverkauft, Restkarten gibt es eventuell an der Abendkasse.