Als Exportziel ist Großbritannien wichtig für die deutsche Autobranche. Foto: epa

Mit dem Austritts-Antrag leitet Großbritannien offiziell das Scheidungsverfahren von der EU ein. Für Deutschland steht dabei mehr auf dem Spiel als die ebenfalls sehr wichtigen Wirtschaftsbeziehungen zu den Briten.

Stuttgart - 730, 729, 728 – ab heute läuft der Countdown für den Austritt Großbritanniens aus der EU. Mit der offiziellen Erklärung seiner Absicht, die EU zu verlassen, stößt das Vereinigte Königreich nach 43 Jahren Mitgliedschaft das Scheidungsverfahren an. Eine treibende Kraft der europäischen Einigung war Großbritannien nie – als ehemalige Kolonialmacht, der zeitweise ein Viertel der Weltbevölkerung angehörte, tat es sich immer schwer, einem regionalen Staatenbund anzugehören.

Doch diese Distanz zu Brüssel machte die britische Mitgliedschaft auch besonders wertvoll – nicht zuletzt aus deutscher Sicht, denn sie war immer auch ein ausgleichender Faktor gegenüber dem Brüsseler Machtanspruch. Es gibt kaum ein Feld der Politik, auf dem die EU nicht anstrebte, ihre Macht auszuweiten – ob es um das Verkaufsverbot für Glühbirnen oder – ganz aktuell – um die Feinstaubbelastung der Luft geht. Das Subsidiaritätsprinzip, wonach die EU nur für Probleme zuständig ist, die der einzelne Staat nicht selbst regeln kann, wird in der EU permanent missachtet. Bei anderen Themen, die tatsächlich nur im Zusammenwirken der Staaten beherrschbar sind, wie etwa der Bekämpfung von grenzüberschreitendem Terror oder der Sicherung der Außengrenzen zeigt die EU dagegen Schwächen.

Von der austarierten Machstruktur bleibt nicht viel übrig

Die EU ist seit jeher auch eine Umverteilungsgemeinschaft, in der wohlhabendere Länder den schwächeren helfen. Doch wie viel Hilfe notwendig ist und wie viel Selbsthilfe verlangt werden kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. Um zu verhindern, dass viele Empfänger in Versuchung geraten, immer höhere Leistungen zulasten der wenigen Geber zu beschließen, hat die EU bereits 2009 im Lissabon-Vertrag Abstimmungsregeln vereinbart, wonach bei vielen Fragen eine doppelte Mehrheit von mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten und 65 Prozent der in diesen Ländern lebenden Bevölkerung zusammenkommen muss. Dadurch kamen Deutschland, Großbritannien, Österreich, die Niederlande, Finnland und die baltischen Staaten, die der europaweiten Umverteilung eher skeptisch gegenüberstehen, nicht ganz zufällig auf eine Sperrminorität von 35,85 Prozent der Bevölkerung. Mit dem Wegfall Großbritanniens fällt diese austarierte Machtstruktur in sich zusammen.

Auch wenn Großbritannien nie in der Eurozone war, kann dies auch im Euroraum ungünstige Wirkung entfalten. Seit Jahren kämpft Deutschland gegen die Idee, dass die einzelnen Länder fürs Geldausgeben zuständig sind, die daraus entstandenen Schulden aber gemeinsam abbezahlt werden müssen. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Ansprüche künftig massiver erhoben werden, wird durch den Brexit gewiss nicht sinken. Doch eine Politik, bei der Länder die Folgen ihres Handelns bei der Gemeinschaft abladen können, führt schnurstracks in die kollektive Verantwortungslosigkeit.

Im Konflikt mit Trump braucht Deutschland die EU

Gerade jetzt, da US-Präsident Donald Trump Deutschlands Exportüberschuss massiv attackiert und das Land gerne isolieren würde, braucht Deutschland den Rückhalt Europas. Doch der aussichtsreiche französische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron zeigt bereits, wohin die Reise gehen könnte: Er droht den USA mit Vergeltungsmaßnahmen. Das könnte die französische Industrie schützen, dem exportorientierten Deutschland aber massive Probleme bereiten. Die Diplomatie wird somit alle Hände voll zu tun haben, damit legitime deutsche Belange nach dem Ausscheiden von Großbritannien nicht an den Rand gedrängt werden.

klaus.koester@stuttgarter-nachrichten.de