Japanische Ästhetik von Miyazaki jr.: Szene aus „Der Mohnblumenberg“. Foto: Verleih

Hayao Miyazaki gilt als der große Künstler des Anime, des japanischen Animationsfilms. Nun setzt er sich zur Ruhe und hat den Stab an seinen Sohn Goro Miyazaki übergeben. Dessen Film „Der Mohnblumenberg“ startet am Donnerstag – und hat nicht ganz die Kraft der Werke des Vaters.

Filmkritik und Trailer zum Kinofilm "Der Mohnblumenberg"

Stuttgart - Nein, mit den lieblichen Welten der Walt-Disney-Zeichentrickfilme haben die Werke Hayao Miyazakis kaum etwas gemein. Stattdessen sehen sich die Protagonisten seiner Animes immer wieder mit Tod, Zerstörung und anderen schockierenden Erfahrungen konfrontiert.

Im Oscar-gekrönten „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2003) etwa werden die Eltern der Titelheldin in Schweine verwandelt, und das Mädchen muss erst einige Prüfungen in einer von Geistern und Monstern bevölkerten Welt überstehen, ehe es sie wieder zurückverwandeln kann. Miyazakis magische Reiche sind von einer überbordenden visuellen Fantasie, ungeheuer faszinierend sowohl wegen ihrer betörenden Schönheit als auch wegen ihrer erschreckenden Momente. Er bildet in surrealen Welten Träume und Albträume ab, die dem menschlichen Unterbewusstsein entnommen zu sein scheinen.

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Zeichentrickfilme sind nur etwas für Kinder und sollen nicht verstören? Mit solchen Aussagen kann der 1941 in Tokio geborene Miyazaki vermutlich nichts anfangen. Seine Animationsfilme sind auch für Erwachsene interessant, überdies hält er nichts von vermeintlich kindgerechten Erzählweisen: „Viele Erwachsene neigen dazu, die Kinder zu unterschätzen.“ Das will er auf keinen Fall, sie nur erschrecken ebenso wenig. Es gehe ihm vielmehr darum, so Miyazaki, „Kindern Mut zu machen und ihnen ihre Ängste zu nehmen“.

Tatsächlich steht am Ende aller seiner Filme Hoffnung – auch wenn davor Katastrophen liegen. Das Verhältnis von Mensch, Technik und Natur ist ein zentrales Motiv, vor allem „Prinzessin Mononoke“ (1997) und „Ponyo“ (2010) sind kraftvolle Parabeln auf die Folgen menschlicher Zerstörungswut. Daneben – und fest damit verbunden – thematisiert er die Folgen menschlicher Gier, ob nach Macht, materiellem Besitz oder kurzfristigen Befriedigungen.

Nun, nach 50 Jahren, will es Hayao Miyazaki gut sein lassen. Anfang September erklärte der 72-Jährige, in Ruhestand zu gehen. Immerhin hat er den Stab an seinen Sohn Goro Miyazaki weitergegeben, der nun im vom Vater 1985 gegründeten Studio Ghibli die Tradition fortführen soll. Bereits 2006 führte er Regie bei dem Fantasy-Anime „Die Chroniken von Erdsee“, mit „Der Mohnblumenberg“ kommt jetzt sein zweiter Animationsfilm in die Kinos – und wird natürlich am Werk des Vaters gemessen.

Was als Erstes auffällt: Die Handlung spielt in der Realität, im Tokio des Jahres 1963, ein Jahr vor den damals stattfindenden Olympischen Spielen, Tradition und Moderne prallen aufeinander. Der malerische Hafen von Yokohama steht im Kontrast zu den Verkehrsmassen und den wuchernden Industriegebieten Tokios, die Umweltverschmutzung beginnt, die Flüsse grau zu färben. Ein Anknüpfungspunkt an das Werk des Vaters, ebenso wie die in ungeheurer Detailverliebtheit gezeichnete Szenerie, die diese Übergangszeit lebendig werden lässt.

Etwas weniger lebendig gerät leider die Handlung: Schüler kämpfen um den Erhalt eines vom Abriss bedrohten alten Clubhauses – stellvertretend für die Frage, ob man in Zeiten rasanten Fortschritts nicht viel mehr auf die Bewahrung von Traditionen achten sollte, um nicht die eigene Identität zu verlieren. Im Rahmen dieses Kampfes lernen sich das Mädchen Umi und der draufgängerische Junge Shun kennen und verlieben sich, doch bald weckt ein altes Foto den schlimmen Verdacht, dass sie beide denselben Vater haben könnten.

So faszinierend die – wie bei Ghibli üblich – fast ohne Computerhilfe entstandenen Bilder sind, so sanft und poetisch das Aufkeimen der ersten Liebe zweier Teenager geschildert wird: Die Geschichte kommt nie richtig in Schwung, ist dünn und obendrein zu beschaulich erzählt, um 90 Minuten zu tragen. Die Dringlichkeit der Werke seines Vaters erreicht Goro Miyazaki nicht, aber vielleicht sollte man dem 46-Jährigen noch ein wenig Zeit zur Entwicklung zugestehen.

Wer darauf nicht hoffen will, kann sich auf ein letztes Werk von Hayao Miyazaki freuen, das in diesem Jahr fertiggestellt wurde und dessen deutscher Starttermin noch unklar ist: „Kaze Tachinu“, die in den 1920er Jahren angesiedelte Geschichte eines Mannes, der schon als Kind davon träumte, ein Flugzeug zu entwerfen – und am Ende feststellen muss, dass seine Erfindung für viele Tote im Zweiten Weltkrieg sorgt. Die Ambivalenz von Fortschritt und Zerstörung, sie ist allgegenwärtig im Werk der Miyazakis.

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