Manchmal ist der Name tatsächlich Programm – auch wenn die Sonne scheint. Martin Nusch fand dieses Straßenschild in Göttingen. Foto: Nusch/Carlsen-Verlag

In seinem Buch schreibt Martin Nusch über „88 Städte, die Sie unbedingt verlassen sollten“.

Herr Nusch, beschreiben Sie doch mal den Nutzwert Ihres Reiseführers.
Das ist in erster Linie ein Party-Nutzwert. Man erfährt kuriose Fakten, die durchaus recherchiert und richtig sind. Man muss solche Sachen nicht unbedingt wissen, kann aber beim Small Talk prima damit angeben oder bei „Wer wird Millionär?“ reüssieren: Wo war Hitler Ehrenbürger bis 2007? Welche Stadt kaufte noch 1493 einen Globus ohne Amerika drauf? Warum regnet es in Wuppertal fast täglich? Keinesfalls sollte man das Buch als Vorbereitung einer Deutschland-Tour nehmen. Der Leser erfährt einiges über die Städte und vor allem, wie man überall wieder wegkommt. Das steht wirklich nur bei mir.

Sie haben das Buch also nicht nur zur Abschreckung geschrieben?
Ich habe es aus einem Gefühl heraus geschrieben, dass Reiseführer extrem werbelastig sind. Da werden immer die schönsten Stellen gezeigt. Aber die 90 Prozent der Stadt, die einfach nicht besonders schön sind, werden verschwiegen. Also dachte ich, probier’ es doch einfach mal anders herum. Beim Recherchieren habe ich dann gemerkt, dass man das lustig machen – und trotzdem ein wenig den Finger in die Wunde legen kann.

Wie kamen Sie auf die Idee?
Das war bei einem Urlaub in Frankreich. Ich wohne in Köln und muss auf dem Weg dorthin durch Belgien. Wir kamen stundenlang an Industriebrachen vorbei und fanden keinen einzigen schönen Platz, wo man mal eben Pause machen konnte. Da war wirklich nichts, noch nicht mal ein einigermaßen annehmbarer McDonald’s. Wir saßen mit zwei kleinen Kindern im Auto, es war heiß, die Straßen verstopft, alles quengelte. Da habe ich mich gefragt: Wie würde ein Reiseführereintrag aussehen, der diese Stimmung realistisch beschreibt? Zu Hause habe mir dann überlegt, dass sich wohl nicht viele für Belgien interessieren. Aber dass man das für Deutschland machen könnte.

Wie haben Sie die Städte ausgewählt?
Ich habe einfach alle Großstädte genommen, also Städte über 100.000 Einwohner. Dazu kamen ein paar kleine Gimmicks, wie die Neumayer-Station in der Antarktis oder Rothenburg ob der Tauber. Ich dachte, wenn alle Großstädte vorkommen, ist es fair. Wobei das allerdings ziemlich schiefgegangen ist. Denn natürlich schaut jeder immer nur als Erstes nach seiner eigenen Stadt und fühlt sich sofort auf den Schlips getreten. Daher rate ich jedem, nicht zuerst das Kapitel über seinen Heimatort zu lesen. Schauen Sie sich erst eine andere Stadt an, die Sie ohnehin ein bisschen doof finden. Dann sind Sie in der richtigen Stimmung, um über Ihre eigene Stadt lesen zu können.

Bekommen Sie viele böse Briefe von Bürgermeistern, die Ihre Kommune verunglimpft sehen?
Von Bürgermeistern gar nicht. Aber es gibt viel Resonanz von Journalisten. Und wenn deren Texte im Internet stehen oder gar auf Facebook verlinkt sind, entbrennen große Diskussionen. Das geht immer nach dem gleichen Prinzip: Erst fallen die Kommentarschreiber über mich her und dann übereinander. Der Erste schreibt: So ein Blödmann, der Autor! Der Zweite: Der war doch bestimmt nicht mal hier! Und dann schreibt einer: Ja, aber recht hat er schon! Und dann fallen alle über den her. Ein paar Reaktionen waren allerdings auch sehr aggressiv. Das hätte ich dann doch nicht erwartet. Viele Leute lieben ihre Stadt doch sehr und lassen nichts darauf kommen. Warum, weiß ich allerdings auch nicht.

Haben Sie all die tristen Orte persönlich bereist?
Ich war in ganz vielen Städten. Aber nicht in allen. Muss man auch nicht, es sieht ja doch überall gleich aus. Stellen Sie sich vor, Sie steigen an einem Bahnhof aus, ohne zu wissen, wo genau Sie sind. Das Erste, was Sie nach dem Aussteigen sehen, wird todsicher eine öde Fußgängerzone sein mit Kamps-Filiale, Douglas, H&M, Media Markt und so weiter.

Das heißt, Sie protestieren mit Ihrem Buch gegen die gleichförmigen deutschen Innenstädte?
Ich habe nicht Architektur studiert oder Stadtplanung, bin also nicht vom Fach. Ich finde nur ganz subjektiv bestimmte Dinge hässlich – darauf zeige ich und finde viel Zustimmung. Innenstädte scheinen zunehmend danach ausgerichtet, dass Menschen konsumieren und dann möglichst schnell wieder verschwinden. Leben in der Stadt ist städteplanerisch anscheinend gar nicht mehr gewollt. Vielleicht ändert ja diese Occupy-Bewegung (Anmerkung: protestierende Bürger) etwas.

Unter den abschreckenden Beispielen sind auch – objektiv betrachtet – schöne Städte wie Hamburg, Freiburg oder München. Wie kommt das?
Auch Hamburg hat viele hässliche Ecken. Außerdem regnet es da ständig. München nach Wiesn-Feierabend? Oh Gott, da will doch keiner sein!
Fast das komplette Ruhrgebiet wird bei Ihnen beschrieben. Dafür waren Sie mit den neuen Bundesländern gnädig. Sind Sie ein Ostalgiger?
Keineswegs. Das liegt einfach daran, dass es im Ruhrgebiet ziemlich viele Großstädte gibt. Im Osten sind es schon deutlich weniger, auch der Südwesten kommt daher nur mit relativ wenigen Städten wie Ludwigshafen, Mannheim, Ulm, Stuttgart oder Pforzheim vor. Von Ostalgie wird man schlagartig geheilt, wenn man einmal sonntagvormittags in Zwickau oder Chemnitz steht und sich vorkommt wie in einer Geisterstadt. Wohnt da noch jemand?

Ihr Wohnort Köln wird auch beleuchtet. Schon mal ans Umziehen gedacht?
Nein, denn ich bin oft genug umgezogen. Es nützt ja gar nichts. Außerdem ist es ja nicht schlimm, dass es dort hässlich ist. Ich habe eine schöne Frau und wunderbare Kinder, da brauche ich gar nicht raus. Außer, um zu dokumentieren, wie es da zugeht – und das macht wieder Spaß. Das Leben auf dem Land wäre für mich jedenfalls auch keine Alternative. Manchmal finde ich ja aus Versehen auch eine schöne Ecke in der Stadt oder eine tolle Geschichte. Und die würde ich dann verpassen.

Martin Nusch wurde 1968 in Stuttgart geboren. Nach dem Abitur 1988 am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium volontierte er beim Stadtradio 107,7. 1991 begab er sich nach Konstanz, um Volkswirtschaftslehre zu studieren, brach das Studium jedoch nach vier Semestern wieder ab. 1993 ging er als Radiojournalist nach Weimar, ein Jahr später nach Berlin. Seit 1995 wohnt Martin Nusch – inzwischen mit Frau und zwei Kindern – in Köln. Wenn er gerade keine Bücher über triste Städte schreibt, verfasst er für den WDR Hörfunkreportagen oder Hörspiele.

„Der Abreiseführer“ ist im Carlsen-Verlag erschienen und kostet 12,90 Euro.